Was macht VUKA mit unserem Führungsverständnis? VUKA ist Militärjargon und taucht jetzt überall auf, um zu zeigen, dass sich Erfolge von gestern und heute nicht mehr in die Zukunft planen lassen. Damit bekommt Führung eine neue Dimension – sie muss Zukunft gestalten auf Basis höchster Unsicherheit. Aus diesem hohen Anspruch entwickelt sich eine neue Führungskultur, die auf Teilhabe, Transparenz und Eigenverantwortung basiert.
Es gibt kein größeres Missverständnis, als das, New Work würde Führung zugunsten von Agilität und dem neuen „Wir-Gefühl“ wegorganisieren. Es ist ein bisschen so, als würde man der Schafherde plötzlich Hund und Hirten nehmen und „#Eigenverantwortung“ brüllen. Und dann stehen sie da, die Schafe, und gucken und grasen. Erstmal finden sie das vielleicht toll, aber spätestens, wenn’s dunkel wird und der Wolf kommt ist Schluss mit lustig.
Dieses Beispiel unterstellt allerdings, dass da eine Führungskraft ist, die weiß, wo´s langgeht und eine Gefolgschaft, die den Weg vertrauensvoll mitgeht. Weil sie überzeugt ist, dass es jemanden gibt, der sich besser auskennt als sie selbst. Demographischer Wandel, Globalisierung, Digitalisierung und Individualisierung lassen an diesem Bild zweifeln.
Vorleber und Vormacher
Nun will ich keinen Arbeitnehmer mit einem Schaf vergleichen. Das plumpe Beispiel veranschaulicht lediglich, dass etablierte Gewohnheiten vermutlich aus einem Bedarf entstehen, der sich nicht einfach wegorganisieren lässt. In der neuen Arbeitswelt verändert sich viel. Unverändert bleibt, dass Organisationen Führungskräfte benötigen, die als Entwickler und Vermittler einer gemeinsamen Vision, als Treiber eines kollektiven Vorgehens, als Vorleber und Vormacher agieren. Das „Was“ der Führung ändert sich nicht, es ist das „Wie“, das überarbeitet werden muss. Das geht nicht auf Zuruf und von heute auf morgen. Wer „New Work“ auslobt, muss zunächst müh- und gemeinsam die Struktur und Kultur dafür schaffen.
Ein Beispiel aus meinem Umfeld: Mitarbeiter eines Unternehmens, das meint, ein neues Führungsverständnis zu leben, sollen sich freiwillig melden, um ein Projekt eigenverantwortlich zu betreuen. Viele melden sich, man geht mit Begeisterung an die Sache und kommt gut voran. In den regelmäßigen Reviews sind auch die Herren und Damen der Geschäftsführung anwesend und haben aus dem Stand immer eine Reihe guter Verbesserungsvorschläge (die mehr oder weniger als Arbeitsanweisungen verstanden werden (sollen)). Nach und nach lässt die anfängliche Motivation im Projektteam nach, mehr und mehr verwässert die Anfangsidee und am Schluss bleibt das Projekt liegen, jeder wendet sich wieder den gewohnten Aufgaben zu. In der Geschäftsführung sieht man sich bestätigt – Eigenverantwortung funktioniert bei uns nicht, „die“ brauchen halt Anleitung.
Ein bisschen Eigenverantwortung funktioniert nicht
Auffällig ist, dass auch Führungskräfte, welche die oben genannten Tugenden vordenken, im Leben daran scheitern. Weil sie im Kern immer noch meinen, sie müssten Mitarbeiter zur Eigenverantwortung führen. Was dann darauf hinausläuft, dass die schöne neue Arbeitswelt doch wieder fremdbestimmt ist. Damit wird das Belohnungskonzept der Netzökonomie – aktive Mitwirkung und Wertschätzung durch eine Community (= Unternehmen) – ad absurdum geführt. Zwischenfazit: Ein „bisschen“ Eigenverantwortung oder „New Work light“ funktioniert nicht – entweder ganz oder gar nicht.
Damit sind wir direkt beim zweiten zu ziehenden Zahn. „Entweder ganz oder gar nicht“ bezieht sich auch auf die Ebenen im Unternehmen, die hin zur neuen Führung entwickelt werden müssen. Immer mehr Berater und Trainer setzen mit ihrer Führungskräfteentwicklung entweder ganz oben an – oder gar nicht. Wenn das oberste Management, der Firmeninhaber oder die Vorstandschefin Personal den Weg nicht versteht, vorgeht und über Werte und vorbildliches Verhalten Motivation fördert, zu Entscheidungen ermutigt und die eigenen Entscheidungen konsequent den neuen Werten unterwirft, wird jede Änderung im (mittleren) Management nur für innovativ grasende Schafe sorgen.
Es gibt wirklich tolle Beispiele für Unternehmen / Unternehmer, die erkannt haben, dass werteorientierte Führung Unternehmen wertvoller macht – für Mitarbeiter und Kunden gleichermaßen. Bodo Janssen von Upstalsboom (mein Interview mit ihm finden Sie hier) sei hier genannt, oder das Unternehmen Phoenix Contact mit HR-Vordenker Gunther Olesch. Übergreifendes Merkmal dieser neuen Führung scheint zu sein, dass man auch „ganz oben“ mal zugeben kann, nicht weiter zu wissen. Janssen ging ins Kloster, als seine Mitarbeiter ihm die rote Karte zeigten und kam mit neuen Ideen zurück.
Es geht nicht um Ziele für den Einzelnen, sondern um eine gemeinsame Vision
Die Objektivierung der Führung durch Zielvorgaben war und ist ein wesentlicher Parameter der meisten Führungstheorien. Auch aufgrund der Berichtspflicht von Aktienkonzernen und des Big-Data-Hypes sind Managemententscheidungen nach wie vor mit objektiven Planungsgrundlagen zu versehen. Dass das so nicht mehr funktioniert, hat mit den veränderten Umweltbedingungen zu tun. Die Welt ist viel zu komplex und unvorhersehbar geworden. Gegebenheiten, vor deren Hintergrund gestern noch Ziele vereinbart wurden, haben heute keine Gültigkeit mehr. Gut informierte Mitarbeiter lassen sich nicht von Zielen leiten, die längst obsolet sind. Führung wird zusehends unsicherer und auch als unsicher empfunden. Deshalb scheint die Frage nach einer zukunftsfähigen Führung vor allem die nach einer Führung zu sein, die mit Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität, mit VUKA, umgehen kann.
Durch VUKA bekommt Führung eine neue Dimension – sie muss Zukunft gestalten auf Basis höchster Unsicherheit. Aus diesem hohen Anspruch entwickelt sich eine neue Führungskultur, die auf Teilhabe, Transparenz und – siehe oben – Eigenverantwortung basiert. Autoritäre Leadership-Modelle sind out, aber auch everybody´s darling wird schnell zu everybody´s depp. Wie und wo findet sich die Führungskraft, die größtenteils noch autoritär sozialisiert wurde, in der neuen Führungskultur wieder?
Führung wird zu einer immer schwierigeren Verabredung. Hier muss meines Erachtens Führungskräfteentwicklung viel mehr leisten. Während oftmals nur an den Kompetenzen gefeilt wird, müsste viel mehr das Potenzial beleuchtet werden, das für ein neues Führungsverständnis benötigt wird. Resilienz und emotionale Intelligenz sind die neuen Schlagworte – Manager müssen lernen, was sie als Führungskräfte benötigen, wenn Erfahrungswissen und Planungskompetenz nicht mehr ausreichen. Das bedeutet aber auch, dass der Mensch gefragt ist, nicht die professionelle „Persona“ – überfordert diese Authentizität? Zumindest braucht sie einen sicheren Rahmen.
Die neue Führung bedeutet im letzten Schuss, gemeinsam mit allen Mitarbeitern ein neues Führungsverständnis zu entwickeln und Commitments, an die sich alle, wirklich alle, halten müssen. Führung könnte man in dieser Sichtweise als Diskussionsangebot verstehen, um kollaborativ die beste Lösung für alle zu finden.
Dazu gehört vor allem
- der Schritt vom Ziel zur Vision: Leitbilder fangen Unsicherheiten auf
- eine klare Führungsstruktur: Vernetztes Arbeiten ohne Überschneidungen in der Führungsfunktion (wo disziplinarische und fachliche Führung sich entstehen ungenaue Verantwortlichkeiten und Loyalitätskonflikte)
- Transparenz: Gemeinsame Wissensbasis als Fundament bestmöglicher Entscheidungen
- Persönlichkeits- nicht Kompetenzentwicklung: Klarheit, Entscheidungsfreude, Achtsamkeit, Authentizität und Aufrichtigkeit
- Mut und Reflektionsvermögen – nicht zu lange am ursprünglichen Plan festhalten, Fehler ein- und zugestehen
- Musterbruch und Zerstörung – ein sicherer Rahmen, in dem sich „Unerhörtes“ wagen lässt
- eine neue Sichtweise: Führung ist eine Dienstleistung, kein Privileg
- ein neues Zeit- und Selbstmanagement – Prioritäten selbst setzen und abstimmen
- die Erwartungen, Sichtweisen und Gedanken anderer ernst zu nehmen
- das Prinzip der Nichteinmischung
- Lösungs- statt Problembewusstsein
- Raum für Individualität – Führung ist Dialog und anerkennt, dass jeder Jeck anders ist.Wer Wissen und Können jedes Mitarbeiters nutzen will, muss seine Grundbedürfnisse befriedigen. (Arbeitszeit, Arbeitsort, enge oder weite Führung – wie soll eine Führungskraft wissen, wie jeder Mitarbeiter tickt? Einfach mal fragen, wäre mein Vorschlag)
- Strategien für „remote control“ – Die neue Arbeitswelt vernetzt global und bezieht immer mehr externe Arbeitsleistung durch Freiberufler, Projektpartner usw. ein. Technische und organisatorische Rahmenbedingungen geben Sicherheit, damit niemand „verloren geht“.
- Vorbilder – nur noch mal der Vollständigkeit halber: Der Fisch fängt am Kopf an zu stinken.
Und während ich diesen Beitrag schrieb, „passierte“ Trump in den USA und ich frage mich – ist all das oben Beschriebene in unserer Gesellschaft möglich? Oder warten wir doch alle nur auf den Leitwolf, der am lautesten brüllt und folgen ihm gerne? Was meinen Sie?
Dieser Beitrag ist zuerst im Human Resources Manager erschienen.