Kennt Ihr das Projekt „Starke? Frauen“ noch nicht? Dann könnt Ihr Euch hier das Einführungsvideo (5 Minuten) ansehen oder es lesen.
(Hinweis: Wer das Videointerview mit Dorothee schon gesehen hat, liest bitte direkt an der Stelle weiter, wo der Text wieder schwarz wird. Die grünen Zeilen sind eine Abschrift des Video-Interviews für alle, die lieber lesen als gucken. :-))
Heute sind wir mit Dorothee Kanitz verbunden. Sie ist genau die Gesprächspartnerin, die mir für meine Gespräche über Starke? Frauen noch fehlte, eine Frau, mit der ich über Gott (und die Welt) sprechen kann! Dorothee war 25 Jahre lang Pastorin, ist Mutter von drei mehr oder weniger abenteuerlustigen Kindern und Großmutter. Irgendwann wollte Dorothee nicht mehr im Namen der „drei-Männer-Gottheit“ sprechen, wie sie sagt, und zog weiter. Nun nutzt sie ihre genuin weibliche Spiritualität, ihre Weisheit und (noch wachsende) Wildheit, um Menschen insbesondere an den wichtigen Schwellen ihres Lebens zu begleiten. Ich freue mich auf unser Gespräch und starte wie immer mit der Frage:
Dorothee, was ist für dich eine starke Frau?
Dorothee: Das Erste, was mir in den Sinn kommt: Wenn du mich vor 20 Jahren gefragt hättest, hätte ich von einer Frau gesprochen, die belastungsfähig ist und alles schafft. Und wenn ich zurückdenke, dann war ich selbst mal so eine. Aber eigentlich war ich immer nur angestrengt und wollte das nicht wahrhaben. Jetzt empfinde ich es ganz anders: Eine starke Frau ist eine Frau, der die Seele aus den Augen leuchtet und die sich in ihrem Körper gut zu Hause fühlt. (Also, sowohl die Seele als auch die gesamte Frau.) Ich würde das eine „lebendige“ Frau nennen – und eine lebendige Frau ist, glaube ich, auch eine starke Frau – und noch viel mehr.
Andrea: Wie ist das, hilft der Glaube an Gott oder Göttin oder Universum oder Leben – an jemanden oder etwas, das uns trägt und begleitet – hilft dieser Glaube uns, stark zu sein?
Dorothee: Das ist natürlich für jede und jeden ein bisschen anders. Für mich ist es tatsächlich so. Dabei würde ich es gar nicht Glaube nennen, lieber Urvertrauen in etwas, das größer ist als wir und das hilft, lebendig zu sein. Ich kann viel mehr wagen, ich kann viel mehr ausdrücken, ich kann rechts und links unbefangen gucken, wenn alles aus einer Quelle kommt. Insofern finde ich, dass der Glaube schon hilft.
Andrea: Es hat mit Vertrauen zu tun?
Dorothee: Ja! Glaube ist für mich Vertrauen. Also nicht das Glauben an etwas, was irgendjemand fest schreibt, sondern so ein ganz tiefes Vertrauen ins Leben, in die Quelle oder auch an Gott, da darf jede/r für sich ein Wort finden. Aber ohne Vertrauen ins Leben kannst du kein Vertrauen in dich selbst haben und ohne das wird es schwierig, glücklich zu sein.
Andrea: Also das Vertrauen in das Leben / Gott oder Göttin schenkt mir ein größeres Vertrauen auch in mich selbst und in meine Entscheidungen, weil ich weiß, dass ich getragen bin?
Dorothee: Ja. Und zugleich bin ich auch Teil von dem, das mich trägt. Für mich geht das Hand in Hand. In mir ist ja der gleiche Lebensfunke, der in dir ist und in jeder Blume, in jedem Baum und in wahrscheinlich noch viel mehr, als ich mir überhaupt vorstellen kann. Das verbindet uns alle und macht es möglich, Vertrauen zu haben und diesem Vertrauen Ausdruck zu geben im Leben.
Andrea: Da sind wir nach drei Minuten Gespräch direkt bei der Sinnfrage. So schnell habe ich das noch nie geschafft. Gibt dieses Vertrauen und diese Verbundenheit (dir) auch einen Sinn im Tun und im eigenen Leben?
Dorothee: Ich würde nicht von einem Sinn im Tun sprechen. Zunächst ist es ein Sinn im Sein. Weil ich lebe, weil du lebst, weil wir alle leben, sind wir. Und allein weil wir da sind, zeigt sich ja schon, dass – ich sage es jetzt mal ganz fromm – Gott mich wollte, und dich und alles Mögliche andere. Es kann natürlich an manchen Punkten schwierig zu verstehen sein, wen und vor allem was er alles noch wollte und will. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass alles in sich einen Sinn hat, weil es lebendig ist. Und damit ist der Sinn vorgegeben. Das heißt nicht, dass ich nicht trotzdem auf der Suche bin, immer wieder neu, mein Leben lang, wie ich diesen Sinn ausdrücken kann, was macht für mich jetzt Sinn zu tun? Wie kann ich das, was mir geschenkt ist, weitergeben, ausdrücken? Verströmen? Wie kann ich andere Menschen damit anstecken, nach ihrer Lebendigkeit zu suchen? Diese ganzen Fragen kommen natürlich trotzdem und das sind ja auch Sinnfragen. Und gleichzeitig ist darunter immer schon dieses anfänglich gesagte: Weil ich bin. Das könnte reichen.
Andrea: In der Anmoderation hatte ich gesagt, dass du irgendwann keine Lust mehr auf die „drei-Männer-Gottheit“ hattest und wir sprechen gerade darüber, dass Gott uns in unserem „ich bin“ genauso gewollt hat, also auch in unserer Weiblichkeit und Männlichkeit. So wie ich es verstehe, bist du jetzt auf dem Weg Weiblichkeit, weibliche Spiritualität, in die Welt zu bringen. Wie drückt sich das für dich aus?
Dorothee: Es fing an mit dem Gefühl, dass ich von Gott nicht repräsentiert bin, wenn er in all diesen Ebenen nur männlich ist. Diese Bezogenheit auf das Männliche schließt die Hälfte der Menschheit, ja, die Hälfte des Lebens aus. Leben differenziert sich aus und wenn nur ein Teil davon gesehen wird und darauf der Spot gerichtet wird, dann stimmt etwas nicht. Mein Frausein macht mich aus, ich kann auf dieser Erde nicht davon absehen, mich irgendwie gendermäßig einzuordnen. Aber das, was mich ausmacht, das, was alle Frauen genuin ausmacht, ist über Jahrtausende abgewertet worden. Und das gilt auch in Bezug auf Gott, der eben „Vater und Sohn und Heiliger Geist“ ist. Dogmatisch gesprochen. Natürlich, jeder meiner Kollegen wird mir sagen, dass das so nicht stimmt, dass Gott weder männlich noch weiblich ist … das ist alles richtig. Doch wir haben solange diese männliche Geschichte gesehen und gehört und in ihrer Wirkung erlebt. Ich glaube, wir brauchen jetzt den weiblichen Pol.
Andrea: Eine Göttin?
Dorothee: Göttin, Materie – eine Mater, sozusagen. Eine Göttin, die ganz anders in ihrem Körper ruht. Ihr Körper ist die Erde, die wir so mir nichts, dir nichts ausbeuten. In allen weiblichen Qualitäten des Nährens, des Schützens haben wir sehr viel Nachholbedarf. Natürlich ist mir bewusst, dass es hier kein Entweder-Oder gibt, nur männlich oder nur weiblich. Trotzdem nützt es uns nichts zu sagen, dass Gott als Vater und Sohn männlich ist, und der Heilige Geist jetzt eben weiblich, weil „Geist“ im Hebräischen weiblich ist. Das sind alles nur Makulaturen, wir dürfen jetzt radikaler werden. Das heißt, an die Wurzel gehen und den „weiblichen“ Werten einen angemessenen Platz geben.
Natürlich fällt mir das schwer, nach 60 Jahren, in denen ich die männliche Sicht gelernt habe. Und natürlich ist diese „Entpatriarchalisierung“, wie ich es gerne nenne, zuallererst in mir und ich kriege das noch lange nicht gut hin. Ich bin so aufgewachsen, dass Frauen eigentlich nur zur Mutter taugen und zu sonst nicht wirklich viel. Von daher habe ich viel Eigenarbeit leisten müssen und tue es immer noch und ich glaube, dass auch unsere Gesellschaft insgesamt diese Arbeit leisten muss. Wenn wir in dieser Welt weiterleben wollen, dann müssen wir unsere Werte verschieben und die haben für mich ganz viel mit „männlich“ und „weiblich“ zu tun. Du könntest es auch Yin und Yang nennen, wie auch immer, letztlich geht es darum, deutlich zum Ausdruck zu bringen, dass Frauen in dem, was sie erleben und tun, wieder wertgeschätzt werden. Ich sage „wieder“, weil es mal eine Zeit gegeben hat, in der das so war, auch wenn wir uns diese kaum noch vorstellen können. Wenn wir diese Wertschätzung reaktivieren, verändert sich viel in der Welt und wenn diese Veränderung „Gott“ nicht mit einbezieht, dann stimmt wieder etwas nicht.
Andrea: Wir dürfen, so verstehe ich es, der Weiblichkeit wieder mehr Raum einräumen. Und ich glaube, dass es dabei tatsächlich nicht um „Frau“ oder „Mann“ geht, sondern ganz grundsätzlich darum, den gesamten Teil der Schöpfung, den das Weibliche repräsentiert, wieder in unser Leben zu lassen.
Dorothee: Ja, wertschätzend ins Leben zu lassen, nicht ausbeutend.
Andrea: Was würde sich dadurch verändern?
Dorothee: Wir würden ganzer, denke ich mir. Je mehr Facetten des Lebens ich wertschätzend betrachten kann, desto großartiger wird es. Das merke ich an mir und glaube, dass sich das auf eine Gesellschaft oder die Menschheit bezogen genauso auswirken würde. Wobei das erst mal hypothetisch gesagt ist, wir haben es ja noch nicht ausprobiert.
Andrea: Nun ja, wir kennen allerdings Gesellschaften, die dem Weiblichen deutlich mehr Raum einräumen, das habe ich in meinem letzten Gespräch mit Uscha Madeisky über aktuelle Matriarchate verstanden.
Dorothee: Die Matriarchate sind imponierend, das, was Uscha da gesagt hat, hat mich sehr beeindruckt.
Andrea: Uschas Erzählungen sind vor allem eine Einladung zum Ausprobieren anderer Gesellschaftsformen, finde ich.
In Matriarchaten wird die Mutterrolle betont, die dir, wenn ich es richtig verstehe, irgendwann nicht mehr reichte, auch wenn sie anfangs Berufung für dich war. So wurdest du sozialisiert, sagtest du. Dann kam der Ruf von Gott. Wie hat sich dieser gezeigt?
Dorothee: Na ja (lacht), wo der Ruf sowohl zum einen als auch zum anderen auch immer her kam … das ist ja nie monokausal. Bei meiner Entscheidung spielte vieles eine Rolle – als meine jüngste Tochter geboren wurde, ist kurz darauf mein Vater gestorben und ein Jahr später war die andere Tochter schwer krank und irgendwie wurde mir in dieser Zeit klar: Es kann alles ganz schnell zu Ende sein! Daraus entstand der Wunsch, mehr zu sein als nur Mutter, mich von dieser Rolle nicht ausschließlich bestimmen zu lassen, und die Frage: Was kommt nach dem Muttersein? Zudem war mit diesen beiden doch relativ einschneidenden Erlebnissen auch die Sinnfrage gestellt. So habe ich angefangen, Theologie zu studieren – das war die Gelegenheit, sowohl die Sinnfrage neu zu klären als auch die Frage nach dem „danach“. Das Studium war für mich total aufregend, auch weil dort die Bibel als historisches Dokument verstanden wurde und so in Frage gestellt werden konnte. Ich war damals um die 30 Jahre alt und fuhr zum Studium nach Hamburg, konnte nach langer Zeit wieder meinen eigenen Schritt gehen auf dem Weg, konnte meinen Geist benutzen.
Andrea: Du hast zwei Welten zusammengebracht …
Dorothee: Ja, und das war ein sehr guter Ausgleich. Das Studium betraf den Kopf – und es war sehr gut, dass ich durch meine Kinder zugleich geerdet war. Ich konnte beide Welten gut ausbalancieren und fand es schön, dass es auf diese Weise einen Teil meines Lebens gab, in dem die Kinder nicht so eine große Rolle spielten, und einen Teil, in dem das Studium nicht so eine große Rolle spielte. Ich konnte mich in keinem dieser Teile völlig verlieren, konnte das immer wieder in mir zusammenbringen.
Andrea: Diesen Aspekt finde ich sehr interessant – das Ausbalancieren von Kopf und Erdung im Muttersein. Da klingt für mich die eben gestellte Frage nach dem „Ruf“ noch mit. Wie machen wir Frauen das, wie können wir unsere „Aufträge“, unsere Intuition oder unser persönliches „richtig-falsch“ in der Verbindung von Kopf und Erdung, Denken und Fühlen, wahrnehmen?
Dorothee: Ich glaube, da gibt es keine generelle Antwort, es ist immer wieder neu ein Austarieren. Vielleicht gibt es tatsächlich andere Gesellschaften wie die Matriarchate, in denen wir nicht so balancieren müssten, weil von Anfang an geschaut wird, wofür ein Mensch steht, wo er oder sie hin will. Bei uns ist das nicht so, wir müssen immer wieder schauen, wie wir Kopf und Körper, Müssen und Wollen, Gelerntes und Gefühltes übereinanderbringen. Da hat sich meiner Wahrnehmung nach nur langsam etwas verändert.
Andrea: Und für dieses Austarieren nutzen wir den Kopf, aber auch den Körper?
Dorothee: Ja natürlich, besonders den Körper (der ist ehrlicher).
Andrea: Wie höre ich auf den?
Dorothee: Also, das ist eigentlich ganz einfach (lacht): Wo die Freude ist, da geht es hin. Wenn mich etwas zum Leuchten bringt, dann will ich doch da hin! Das wird uns natürlich nicht beigebracht. Ich habe viele Jahrzehnte gebraucht, um das zu kapieren. Jetzt merke ich: Wenn sich mein Körper weitet, dann ist die Richtung schon mal richtig. Wenn ich anfange, begeistert zu sein, ist es meist auch die richtige Richtung. Wenn sich alles zusammenzieht, ja, dann stimmt etwas nicht. Das ist an sich nicht schwer, nur sehr verschüttet.
Andrea: Wie gehst du mit Menschen um, bei denen du merkst, dass dieses Körperwissen komplett verschüttet ist? Wie könnten die vorgehen, um es wieder freizulegen?
Dorothee: Erst mal die Basis: Beobachte dich. Was spielt sich eigentlich in dir ab? Fang beim Atem an. Ich bin keine Körpertherapeutin, aber so habe ich angefangen – was spüre ich überhaupt, was nehme ich wahr von meinem Körper, von meinen Gedanken, wie ist das im Fluss? Es geht darum, lebendiger zu werden. Diese wachsende Lebendigkeit lässt sich auch in der Lebensbegleitung schön bemerken, die ja meine Hauptaufgabe war und ist. Ich finde es unglaublich wichtig, die Einschnitte im Leben, die Schwellen, mit individuellen Ritualen lebendig zu machen, so dass wir sie bewusster er-leben: Da ist ein Kind geboren, dort ist jemand gestorben, zwei wollen sich zusammentun … und noch 1000 andere Möglichkeiten des persönlichen Erlebens wichtiger Lebensabschnitte.
Andrea: Lass uns gerne mal über diese Rituale reden, die ja auch in deiner Zeit als Pastorin für dich wesentlich waren. Warum?
Dorothee: Weil Schwellen besondere Punkte sind. Das Leben geht ab hier nicht mehr so weiter, wie es bisher ging. Ich biege ab, ich drehe um, es kommt etwas dazu, es geht etwas weg, das Leben wird einfach anders. Wir sind es nicht mehr gewohnt, dort innezuhalten und diesen Moment bewusst zu gestalten. Und wir sind es deswegen auch nicht gewohnt, solche Momente zu begleiten oder begleitet zu werden. Es passiert halt: Du heiratest, und das Leben ist schön. Du kriegst ein Kind, und das Leben ist schön. Jemand stirbt, und das Leben ist gerade nicht schön. So eindimensional ist es allerdings selten. Darum ist es sinnvoll, innezuhalten und gemeinsam zu feiern. Genau hinzuschauen, was brauche ich, was brauchen wir, um diese Veränderung gut ins Leben zu integrieren. Rituale können mit dafür sorgen, dass uns Einschnitte nicht völlig aus der Bahn werfen. Sie können uns sogar auf eine andere, eine neue Weise stark machen. In indigenen Kulturen sind Rituale noch sehr lebendig, wir leben sie nur noch sehr rudimentär, indem wir – christlich gesprochen – taufen, trauen und beerdigen.
Andrea: Brauchen wir neue Rituale?
Dorothee: Ich glaube, dass Rituale wiederkommen werden, allerdings nicht als feststehende Routinen. Wir sind eine sehr individualisierte Gesellschaft, und das können wir auch nicht von heute auf morgen verändern. Bei uns braucht jeder seinen und jede ihren Weg. Vielleicht mit der Familie, in der man sich eingebettet fühlt. Vielleicht aber auch mit Freund:innen, einer anderen Gemeinschaft oder bewusst allein. Ich selbst fand es damals wunderschön, ordiniert zu werden und zu wissen, dass ich diesen „Job“ nicht nur aus eigener Kraft machen muss – da ist eine Gemeinde, die zusammengerufen wurde und mich als Pastorin aufgenommen hat. Die Quelle, Gott, wurde dazu gerufen und wir feierten das alle gemeinsam. Es tut gut, so gehalten zu sein. In meiner Zeit als Pastorin habe ich mich vor allem als Begleiterin von Menschen verstanden, die Schwellen selten bewusst gehen und es nicht so gewöhnt sind, mit Sprache und Gefühlen umzugehen. Dann ist es gut, wenn eine Person dabei ist, die so eine Situation begleiten und halten kann. Doch natürlich darf jede/r selbst wissen, wie sie Trauer oder Freude erleben will, ohne sich am „so macht man das“, am außen, zu orientieren. Ich habe die Erfahrung gemacht (und mache sie noch), dass es Menschen, die richtig betroffen sind, einfach gut tut, wenn da jemand ist, der oder die das Ganze hält. So können sich Emotionen vielleicht auch besser zeigen, die wir sonst eher verdrängen, weil wir funktionieren müssen.
Andrea: Spannend. Du hattest oben betont, dass du keine Körpertherapeutin bist. Stimmt. Trotzdem entstand jetzt bei mir der Eindruck, dass du mit deiner Art, Rituale zu gestalten, dem fühlenden Wahrnehmen Raum gibst. Du schaffst für Menschen an den Schwellen Gelegenheit, innezuhalten und die Bedeutung dessen, was da gerade geschieht, wirklich zu fühlen. Nicht einfach weiterzugehen, weiterzumachen. Sondern sich die Zeit, den Raum und die anderen Menschen zu nehmen, mit deren Hilfe ich mich auf so eine Situation besser einlassen kann. Oder?
Dorothee: Ja, stimmt. Wobei ich immer die Vertikale, also Himmel und Erde, mit einbeziehen würde als gestaltend Kraft solcher Rituale. Für mich als Ritualleiterin ist es wichtig, dass ich auch gehalten werde.
Andrea: Die Vertikale einbeziehen, also Gott, Universum …, sagst du. Wie ist das eigentlich in der Begleitung von Menschen, die nicht religiös oder spirituell auf irgendeine Art sind – hilft Gott oder Göttin denen trotzdem?
Dorothee: Aktuell kommen meist Menschen zu mir, die den spirituellen Aspekt auf irgendeine Art mit einbeziehen. Früher, in der Kirche, hatte ich manchmal mit Angehörigen zu tun, die zum Teil deutlich sagten, dass sie mit Gott gar nichts am Hut haben. Aber eine Beerdigung findet dann eben doch mit der Kirche statt. Und ich habe auch solche Menschen am Ende eines Gesprächs zum gemeinsamen Gebet im Sinne des oder der Verstorbenen eingeladen. Und wer dieser Einladung gefolgt ist, war oft von dieser anderen Form des Sprechens sehr berührt und wirklich dankbar für ein besonderes Erleben: Da spricht jemand nicht mit mir, mit uns, sondern bringt uns alle in ein Feld ein. Und für manche hat sich deutlich wahrnehmbar ein anderer Raum geöffnet, vielleicht nur für zwei Sekunden. Das waren immer Momente, die auch mich beschenkt haben, es berührt mich jetzt noch, davon zu sprechen.
Andrea: Du hast es geschafft, für diese Menschen einen anderen Erfahrungsraum zu öffnen, als Dolmetscherin für Gott, hin zu einer Anbindung?
Dorothee: Ich habe da nichts geschafft, es hat sich etwas kreiert, das ist etwas anderes. Ich wollte in diesen Momenten nichts machen, weil das, was da entstand, einfach unverfügbar ist. Es ergibt sich oder eben nicht. Aber diese Momente, in denen Menschen gemeinsam noch eine andere Dimension dazu holen, das sind schon irgendwie heilige Momente. Ich kann das nicht anders sagen. Das ist für mich so.
Andrea: Diese Momente sind für mich auch und gerade dann von großer Bedeutung, wenn wir über Weiblichkeit sprechen. Es geht mir um diese spezielle Art, in Gemeinschaft zusammenzukommen, die du gerade beschreibst, in der wir quasi „das Dritte“ mit einladen. Dich, mich und Gott, Leben, Universum. Am besten funktioniert das im Kreis, der ja das urweibliche Symbol ist.
Dorothee: Ja, der Kreis verändert ganz viel. Ich wollte immer mehr im Kreis reden, nicht mehr von der Kanzel, das fühlte sich zunehmend falsch an. Der Kreis ist allein von der Schwingung her ein anderer Raum. Alle sitzen oder stehen nebeneinander, man guckt sich gegenseitig an. Keine/r fällt raus, spricht von einer anderen Position aus, die höher oder niedriger ist. Der Kreis hält die gesamte Energie, die jede/r einzelne dazu beiträgt. Ich habe in den letzten Jahren wirklich viele, auch virtuelle, Frauenkreise erlebt, die diesen besonderen Raum schufen, in dem jede sich zeigen darf, so unterschiedlich sie im Sein auch sind. Wir zünden ein Feuer in der Mitte an, oder eine Kerze, als Zeichen dafür, dass da noch mehr ist. Indem wir auf diese Art zusammenkommen, entsteht schon in sich etwas, manchmal sogar ohne Worte. Das kannst du nicht allein machen, die Kreisenergie potenziert die Kräfte, fast wie ein Urknall. Ich glaube, letztlich läuft alles auf den Kreis hinaus und wir Menschen haben eine Linie daraus gemacht! Das war vielleicht für eine gewisse Zeit lang ok, weil es einfach mal ausprobiert werden wollte, aber jetzt sollten wir zum Kreis zurückkehren oder noch besser zur Spirale, die sich einfach immer wieder erneuert.
Andrea: Nach meiner Erfahrung ist diese spezielle Kreisenergie nicht allein auf Frauenkreise beschränkt, wie siehst du das?
Dorothee: Nein, ist sie nicht, und gleichzeitig glaube ich, wir brauchen beides. Kreise, in denen sich Frauen alleine und Männer alleine treffen und Kreise, in denen alle zusammenkommen. Ich habe bei mir selbst erlebt, dass ich zuerst den Kreis der Frauen benötigte, weil ich noch nicht so weit war, auch Männern so zu begegnen.
Andrea: „Noch nicht soweit“ – was heißt das?
Dorothee: Soweit, dass ich ich selbst sein kann, mich einlassen kann, mich kenne und mich liebe und da sein lasse, mir gestatte, zu fühlen und einfach alles lebendig sein zu lassen. Auch die anderen, auch die Männer. Wir sind ganz oft – da schließe ich mich nicht aus – in uns reingekrümmt, im Widerstand, meinen, uns verteidigen zu müssen. Solange ich nicht in mir zuhause bin, ist es ganz schwer, mich nicht ablenken zu lassen von dem, was im Kreis passiert. Da ist noch Entwicklung nötig und ich bin sehr gespannt, was noch passiert – und überzeugt, dass die Kreise künftig einen ganz großen Beitrag leisten werden, auch für Frauen und deren Bewusstwerdung, in all ihrer Großartigkeit.
Andrea: Frauen sind großartig?
Dorothee: Ja, jede auf ihre einzigartige Weise. (Männer auch, doch es ist nicht mein Ruf, mit Männern zu arbeiten.) Ich merke immer mehr, dass mein Herz dafür schlägt, Frauen ein Bewusstsein zu vermitteln, wie genial sie sind, wie einzigartig. Und auch, was das für eine großartige Leistung ist, ein Kind aus dem eigenen Körper entstehen zu lassen. Und dass sie sich dafür wertschätzen und nicht sagen – Na ja, Kinder kriegen kann jeder.
Andrea: Jeder sowieso nicht.
Dorothee: Nein, gleichzeitig sagen wir das oft so, ganz unbedacht.
Andrea: Ich glaube, das ist ein entscheidender Punkt und er taucht in meiner Beschäftigung mit der „starken? Frau“ immer wieder auf: Allein in dem Geschenk, Mutter sein zu können, liegt ganz viel Großartigkeit, Besonderheit und liegen auch ganz besondere Ressourcen, die wir als Frau mitbringen. Und ob wir die dann tatsächlich als Mutter einbringen oder als Unternehmerin oder als Coaching oder als Schriftstellerin oder als Pastorin, das ist letztlich wurscht. Und ich sehe es genau wie du: Es darf niemanden geben, der da reinredet oder die Großartigkeit dessen in Frage stellt.
Dorothee: Vor allem eines: Wir dürfen unsere Großartigkeit selbst nicht länger in Frage stellen, auch wenn wir es so gelernt haben.
Andrea: Das finde ich ein wunderschönes Schlusswort, Dorothee, vielen Dank für das Gespräch.
Kontakt:
Dorothee Kanitz