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Kennt Ihr das Projekt „Starke? Frauen“ noch nicht? Dann könnt Ihr Euch hier das Einführungsvideo (5 Minuten) ansehen oder es lesen.

(Hinweis: Wer das Videointerview mit Dolores schon gesehen hat, liest bitte direkt an der Stelle weiter, wo der Text wieder schwarz wird. Die grünen Zeilen sind eine Abschrift des Video-Interviews für alle, die lieber lesen als gucken. :-))

Für meine Gespräche über Starke? Frauen hatte ich nach einer Gesprächspartnerin gesucht, mit der ich mich über die Liebe austauschen kann und habe in Dolores Richter eine Fachfrau gefunden, eine Liebesforscherin, die seit 30 Jahren Liebende und Gemeinschaften inspiriert. Dabei geht es ihr um die Potenzialentfaltung und um mehr Bewusstsein in Liebe und Sexualität. Außerdem liegt ihr die gemeinsame Forschung für einen tiefgreifenden kulturellen Wandel am Herzen. Dolores ist Mutter eines Sohnes, Mitbegründerin des ZEGG (www.zegg.de) und Autorin des Buches „Die Liebe als soziales Kunstwerk“. Dolores, Stärke, wie immer wir sie definieren möchten, hat für mich auch etwas mit Liebesfähigkeit zu tun, sowohl in Bezug auf das Ich als auch auf das Wir. Ist eine starke Frau also „liebesfähig“ – und bevor wir gleich im Gespräch vielleicht diese Frage beantworten – Was ist das eigentlich für dich, eine starke Frau?

Dolores: Eine starke Frau und „liebesfähig“, das hängt für mich zusammen. Eine starke Frau ist eine Frau, die gerne Frau ist, die sich ihrer Wurzeln bewusst ist und ihrer Bedeutung. Die Frau hat eine Bedeutung! Sie ist Lebensstifterin und – in meinen Worten – sie ist Erde, sie ist Körper, sie ist Heimat. Das kann für manche pauschalisierend klingen, aber ich möchte es so aussprechen, weil es mit der Stärke der Frau zu tun hat, dass sie ihre Weiblichkeit annehmen kann. Und diese Stärke bedeutet auch, dass ich mich in meinem biologischen Körper zu Hause fühle und ihn bejahen kann. Je mehr ich das fühlen kann, desto eher erlange ich meine Unabhängigkeit auch von dem, was von der Gesellschaft auf mich zukommt, an Rollenbildern, an Erwartungen, an Verkleinerungen oder auch an Leistungskonzepten. Eine Stärke der Frau ist für mich, dass sie sich aus dem normalen Kontext lösen kann und selbst bestimmt, was sie als Kraft versteht. Frauen sind unglaublich stark.

Andrea: In dem, was du gerade gesagt hast, schwingt für mich schon eine ganze Menge Selbstliebe mit. Dieses Thema klang in vielen Gesprächen über Starke? Frauen an – Selbstliebe als Basis für jede Liebesbeziehung. Ist das so, siehst du das auch so?

Dolores: Unbedingt. Wenn ich mich selbst nicht liebe, ist es schwer für andere, mich zu lieben und auch für mich ist es schwer, andere zu lieben. Das heißt, die Selbstliebe ist eine Quelle der Liebe, und sie kann wachsen durch Selbstwahrnehmung und Selbstfürsorge. Und gleichzeitig gehört zu dieser Sichtweise auch die Einsicht, dass es Kulturen gibt, in denen das Wort „Selbstliebe“ gar nicht existiert. Das heißt, die mangelnde Selbstliebe in unserer Gesellschaft ist auch die Folge von einem Leben, in dem wir nicht verwurzelt sind. Wir leben in einer Gesellschaft, die sehr schnell geworden ist, die sehr von Konsum geprägt ist und vom Funktionieren. Ich darf also diesen Mangel an Selbstliebe nicht nur auf mich persönlich beziehen. Selbstliebe heißt für mich auch, dass ich mich positioniere für ein Leben, das der Lebendigkeit und allen Lebewesen einen Platz gibt. Selbstliebe ist für mich etwas ganz Großes, ein Politikum, auch.

Andrea: Ich finde es gerade interessant, du sagst, es gibt Kulturen, die das Wort „Selbstliebe“ nicht kennen. Im Internet findet sich ja die Geschichte, dass dem Dalai Lama das Wort „Selbsthass“ in einer Gesprächsrunde erklärt werden musste, weil er nicht verstand, wovon die Leute reden. Das entspricht dem, was du sagst: Kulturen, die noch verwurzelter sind, noch mehr im Naturbezug und in Gemeinschaften leben …

Dolores: … wo die familiären Bezüge noch viel klarer sind oder die Stammeskultur, diese Kulturen brauchen das Wort Selbstliebe nicht. Andererseits können familiäre Bezüge und Stammeskulturen ja auch eng sein. Trotzdem ist der Mensch ein soziales Wesen und braucht Bezüge sowie Zugehörigkeit und die sind eben in der modernen Kultur oder in den postmodernen Kulturen nicht mehr so fühlbar. Die Bezüge sind sehr digitalisiert und schnell und so weiter.

Andrea: So wie wir jetzt auch – über Zoom.

Dolores: Ja. Genau.

Andrea: Ich frag mal ganz groß: Was ist das denn überhaupt, Liebe?

Dolores: Ganz groß gesprochen ist Liebe das, woher wir kommen und wohin wir gehen. Für mich ist Liebe die Essenz des Universums, sie ist eine Energie. Und in gewisser Weise vergessen wir durch unsere Geburt diese Herkunft aus der Liebe und benötigen neue Erfahrungen, um Liebe zu fühlen. Wenn wir gute Bindungserfahrungen gemacht haben, ist das wie selbstverständlich. Dann stehe ich liebend in der Welt, weil ich Bezogenheit erlebt habe, Kontakt, ein Gegenüber. Oft haben wir das nicht und dann suchen wir Liebesgegenüber, durch die wir eine andere Art von Liebe spüren, weil wir unser Gegenüber toll finden. Das funktioniert zum Teil, aber oft ist die Enttäuschung schon vorprogrammiert. Wenn ich Liebe suche, weil ich sie selbst nicht habe, gibt es eine Endlichkeit darin.

Andrea: Ich projiziere sie?

Dolores: Genau, ich brauche etwas, der andere braucht auch was und dann hält es halt so lange, bis wir an einen Punkt kommen, wo einer von uns gerade mal etwas nicht geben kann, was der andere braucht. Und das ist die interessante Stelle! Das heißt noch nicht, dass die Liebe da aufhört. Aber an der Stelle wird eine Entscheidung nötig, dass beide beitragen wollen zu heilen, sich gemeinsam entscheiden, tiefer zu gehen, nicht mehr nur etwas zu brauchen, sondern zu schauen: Was ist es, was ich dir schenken kann? Da hört die Erwartung aneinander auf. Die Vertiefung in der Liebe ist die Stelle, wo ich mich bewusst für sie entscheide, auch wenn ich nicht alles genauso kriege, wie ich es gerne hätte.

Andrea: Wenn ich dich richtig verstanden habe, dann hast du gesagt, dass Liebe kein Gefühl ist, so wie zum Beispiel Freude, sondern dass Liebe eine Urkraft ist. Ist sie etwas wie Luft oder Wasser, würdest du sie mit den Elementen vergleichen?

Dolores: Elemente finde ich einen schönen Vergleich, Urkraft passt auch. Und Liebe ist auch ein Zustand und gleichzeitig auch eine Fähigkeit, die wir lernen können. Liebe ist alles. Ich zum Beispiel bin ganz oft im Zustand der Liebe, wenn ich entspannt bin, wenn die Sonne scheint, wenn ich Zeit habe. Plötzlich kommt mein Mann um die Ecke und ich sage: „Oh, ich liebe dich so sehr.“ Dabei ist er gar nicht anders als gestern, aber ich bin anders. Und wenn wir von Liebe als Fähigkeit sprechen, dann öffnen wir die Möglichkeit, etwas auszuräumen, was vielleicht im Weg zu dieser Liebesfähigkeit liegt. Ich kann Muster und Glaubenssätze verabschieden, ich kann alte Erfahrungen integrieren, um diese Fähigkeit freizulegen. Das gelingt auch durch Erkenntnis, indem ich verstehe, was Liebe eigentlich ist, dass sie nicht nur zu mir kommt, weil der richtige Partner vor mir steht, sondern dass ich Liebe durchlassen kann, dass ich strömungsfähig werde.

Andrea: Das ist schön – ich werde strömungsfähig für die Liebe, lasse sie fließen. Liebe ist also Element, Zustand und Fähigkeit zugleich. Den Zustand könnte man vielleicht mit einem Flow vergleichen und die Liebesfähigkeit können wir trainieren oder schulen, sagst du, indem wir uns unsere alten Glaubensmuster anschauen und indem wir durchlässig dafür werden.

Andrea: Dolores, wie bist du überhaupt darauf gekommen, dich mit der Liebe zu beschäftigen?

Dolores: Hm. Ich glaube, weil es so schwer war. Das ist ja oft so – you teach best, what you most need to learn. Ich hatte es als Jugendliche, als junge Erwachsene, richtig schwer in der Liebe, hatte eine wahnsinnige Liebessehnsucht und gleichzeitig eine große sexuelle Lust. Und die Männer, die ich getroffen habe, konnten mal das eine und mal das andere beantworten, aber nicht zusammen. Deswegen musste ich mich mit dem Thema befassen, um zu verstehen, was da eigentlich los ist. Und dann habe ich die Gemeinschaft getroffen, aus der das ZEGG hervorgegangen ist. Der Ursprung vom ZEGG ist die Fragestellung, wie wir gewaltfreie Kulturen schaffen und die Frage, was eigentlich Frieden ist, wenn es nicht nur beim moralischen Apell bleibt. In unserem Versuch, diese Fragen zu beantworten, kamen wir auf sehr viele, sehr komplexe Themen und fanden heraus, dass Liebe und Sexualität sehr zentral sind an der Stelle. Können wir Liebe in Gemeinschaften einbetten, können wir neue Antworten finden für Vergleich, Konkurrenz und Eifersucht? Können wir diese Antworten finden, wenn wir eine Gruppe von Menschen aufbauen, die sich vertraut? Und daraus ist dann meine Berufung als Liebesforscherin entstanden.

Andrea: Und als Liebesforscherin hast du ein Buch geschrieben: „Die Liebe als soziales Kunstwerk“.

Dolores: Das Buch ist das Kondensat unserer Gemeinschaftsforschung. Oder, lass mich anders anfangen – Die Partnerliebe ist heutzutage überfordert. Wir erwarten von unserem Partner alles das, was wir früher in Gemeinschaft oder Religion oder spiritueller Anbindung, vielleicht auch im Beruf und so weiter gefunden haben. Durch unsere mangelnde Einbindung in etwas Größeres muss in der Partnerschaft fast alles erfüllt werden, was ich sonst nicht habe. Dadurch entsteht ein immenser Druck. Zum einen. Zum anderen sind wir Menschen fast immer isoliert. Es gibt viele kleine Haushalte, wir leben nicht mehr mit Oma oder Opa zusammen und wer Kinder hat, weiß, was es heißt, zwei kleine Kinder alleine zuhause großzuziehen, und der Partner / die Partnerin kommt abends nach Hause. Diese Lebensform ist eigentlich nicht natürlich, also, jedenfalls nicht gesund. Wir merken das, wenn mal ein paar andere Kinder außenrum sind und ein paar Erwachsene, dann entspannt sich etwas.

Andrea: Unsere Liebesfähigkeit braucht die Begegnung im Außen.

Dolores: Ja, und meine Erfahrung ist, dass auch die Lebendigkeit der Beziehung und der Sexualität leichter möglich ist, wenn wir eine Einbettung haben, wenn Freunde da sind, mit denen wir über Liebe, Sexualität und Kinder sprechen können, und zwar so ehrlich, dass wir unser Inneres zeigen können. Wir brauchen ein Umfeld, wo wir in Kontakt zu unserer eigenen – auch sexuellen – Identität gehen können, zu unserem erotischen Selbst und keine Konkurrenz von anderen Frauen oder Männern befürchten müssen, dadurch, dass andere Frauen wissen dürfen, wie ich begehre, wie ich liebe. Wenn wir auf dieser Ebene in einer unterstützenden Haltung miteinander transparent sind, entsteht eine Art von Verbundenheit und das ist das soziale Kunstwerk: Ich bin im Bereich Liebe und Sexualität nicht allein, ich erfahre, dass das, was mir in meiner Partnerschaft vielleicht schwer fällt, auch anderen bekannt ist und ich merke, dass es vielleicht auch an meiner Sicht liegen kann, an früheren Erfahrungen und so weiter. Das heißt, ich kann sehen, dass ich Liebe und Beziehung gestalten kann.

Andrea: Die Gemeinschaft eröffnet uns mehr Perspektiven.

Dolores: Und vor allem erhalten wir neue Perspektiven auf die Aspekte unserer Partnerschaft, die gar nicht nur mit uns zu tun haben. Es gibt ja eine geschichtliche Prägung, sei es durch das Patriarchat, durch Dominanzkultur – Frauen dürfen nicht sexuell sein, dürfen nicht sichtbar sein, nicht alleine leben, in vielen Kulturen ist das noch heute so. Das hat ja Folgen für das Selbstgefühl von Frauen – da ist tatsächlich ganz viel Mangel und Kleinheit …

Andrea … und falsch sein, falsch fühlen …

Dolores: … ja, wir fühlen uns falsch, müssen immer ausgleichen, sorgen für die sozialen Räume. Das ist eine Fähigkeit, aber auch Folge einer Not. Und diese kollektiven Dynamiken spielen in Partnerschaften rein, was wir zu zweit gar nicht sehen können. Kollektive Dynamiken kann man nur im Kollektiv sehen. Das heißt, ich kann dieses Empfinden von dir wegnehmen und stattdessen allgemeingültig feststellen – Ah, Mann geht es so mit Frau.

Andrea: Generell …

Dolores: Genau, es wächst ein Verständnis von „es geht dir so, es geht mir so“ und damit können wir arbeiten. Wir verstehen, dass es nicht daran liegt, dass mein Partner mich nicht leiden kann, nicht attraktiv findet oder generell nicht mit Frauen kann, es ist ein kollektives Thema, das wir bearbeiten können. Das ist die Erfahrung im sozialen Kunstwerk.

Andrea: Das ist eine Erleichterung – es ist gar nicht mein persönliches Problem, was ich mit ihm oder ihr habe, sondern da hängt viel mehr dran und dann können wir es nehmen und bearbeiten. Schön. Die Liebe also als soziales Kunstwerk und als Gemeinschaftsaufgabe, die dann wiederum das Potenzial einer Gemeinschaft entfalten kann, richtig? Die Arbeit an der Liebe entfaltet das gemeinsame Potenzial.

Dolores: Ja, auf jeden Fall.

Andrea: Jetzt sprechen wir schon eine Zeit über Liebe, Erotik, Sexualität und du hast am Anfang gesagt, dass du als junge Frau eine große Sehnsucht nach Liebe und ein großes Bedürfnis nach Sexualität hattest und du sahst beides gemeinsam nicht erfüllt. Also schmeißen wir vielfach zwei ganz unterschiedliche Bedürfnisse – und vielleicht auch Beziehungen – in einen Topf, die Liebesbeziehung und die sexuelle Beziehung? Habe ich das richtig verstanden?

Dolores: Ich glaube, dass das nicht für jeden so sein muss, es gibt unterschiedliche Typen und Erfahrungskontexte. Bei manchen geht Liebe und Sex nur zusammen und bei anderen gibt es die Erfahrung, dass es – wie du sagst – zwei Töpfe sein können. Ich selbst halte grundsätzlich Sex und Liebe nicht für das Gleiche. Sexualität ist wunderschön, aber sie ist auch Biologie, ist Fortpflanzung, ist Triebkraft, körperliche Vereinigung. Wenn Klarheit und Vertrauen zwischen den Menschen sind, die Sexualität miteinander teilen, dann ist Sexualität körperliche Liebe. Und wenn jetzt eine persönliche oder eine Partnerliebe dazukommt, dann haben wir eine Partnerschaft, in der sich Liebe und Sexualität auf sehr, sehr schöne Weise befruchten. Und wer das erlebt hat, möchte es immer haben. Das ist der Grund, warum wir eine dauerhafte oder lebendige Sexualität in einer Partnerschaft suchen und bei manchen gelingt das auch lange, für andere gibt es Brüche, wo das Begehren entweder aufhört oder sich woanders hin richtet. Das ist eine entscheidende Stelle. Wenn entweder ich mein Begehren anders ausrichte oder der Partner sein Begehren neu verortet – denken wir dann – „Ah, ich liebe ihn nicht mehr“ oder „Ah, er liebt mich nicht mehr“? Denn das ist ja die Sichtweise, die wir ständig gezeigt bekommen. Dieses Denken möchte ich gerne aufbrechen, weil es meiner Ansicht nach nicht immer stimmen muss. Wir könnten Begehren und Sexualität als etwas grundsätzlich Gutes würdigen und dann offen darüber sprechen. Damit werden wir sicherlich etwas auslösen – Freude oder Eifersucht, was auch immer, aber es muss nicht mehr heimlich passieren. Das ist erlösend, denn die Heimlichkeit im Bereich Sexualität ist so dermaßen groß, es wird so viel gelogen, so viel heimlich gemacht, dass es ein Grundmisstrauen zwischen den Geschlechtern gibt, das eine kollektive Wirkung auf die Liebe hat. Deswegen ist es meiner Ansicht nach so wichtig, sich auf solche Situationen gut vorzubereiten.

Andrea: Also entsteht das Grundmisstrauen in einer Liebesbeziehung durch den Einfluss der Sexualität, weil dort so viel unter der Decke passiert, wir viel verschweigen? Ich könnte mir vorstellen, dass es gerade im mittleren Alter auch oft darum geht, dass eine/r von beiden
die Lust verliert und vielleicht trotzdem einfach irgendwie weitermacht. Das ist für mich auch eine Art von Lüge oder Betrug, vielleicht nicht schlimmer oder besser als Fremdgehen. Ich mache weiter beim Sex mit, weil ich denke, dass es ja irgendwie zur Ehe oder zur Partnerschaft dazu gehört, oder ich versuche meinen Partner zu nötigen: „Mach jetzt mit, weil das gehört dazu“. Und weil, wie du sehr richtig sagst, Sexualität immer noch ein Tabuthema ist, besteht für beide nicht die Möglichkeit, sich in Ruhe hinzusetzen – oder zu legen 😊 – und gemeinsam zu fragen: Warum haben wir denn eigentlich keine Lust mehr?

Dolores: Hm, ja, genau. Es ist wichtig, an diesen Stellen, wo wir keine Lust mehr haben, innezuhalten und zu schauen. Gerade wenn wir älter werden, verändert sich der Zugang zur Sexualität und auch die Geschwindigkeit – manchmal möchte man gerne feiner werden, ganz von vorne anfangen und dann nochmal eine ganz andere Lust entdecken.

Andrea: Ist die „starke Frau“ mit ihrer Sexualität im Reinen?

Dolores: Ja, beziehungsweise, sie ist mit dem im Reinen, was ist. Denn es kann ja sein, dass sie, aus welchen Gründen auch immer, keinen Zugang zu ihrer Sexualität hat. Und dem zuzustimmen, also zu akzeptieren, dass es ist, wie es ist, das ist oft der Beginn von Veränderung. Ich kenne „starke Frauen“, die gar keine Sexualität haben, sogar viele. Frauen, die ihren ganzen Eros in die Arbeit stecken, in ihre Wirksamkeit.

Im ZEGG gibt es eine sehr positive Grundhaltung gegenüber Sexualität und in meinen Seminaren zum „Liebeskunstwerk“ (www.liebeskunstwerk.org) auch. Ich erlebe oft, dass Frauen in so ein Feld kommen und merken, dass Sexualität akzeptiert wird. Sie entdecken eine ganz andere Möglichkeit, zur eigenen Lust zu stehen und durch diese Bejahung im Feld ändert sich ganz viel. Ich denke jetzt gerade an eine Theologin, bei der sich ihre ganze katholische Vergangenheit nochmal meldete und die beschlossen hat, zu ihrer Lust zu stehen und die dann ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt hat. Ich glaube, wir fühlen uns ganzer in unserem Wirken, wenn wir auch sexuell sind, und ich finde es eine gesellschaftlich relevante Aussage, dass ich als Frau sexuell sein möchte, dass ich gerne Frau bin und gerne eine sexuelle Frau bin. Momentan kann ich das nicht überall sagen.

Andrea: Nein, sicherlich nicht. Ich bin jetzt gerade beim Bild der „starken Frau“, das ich immer assoziiere – mit grauem Hosenanzug, die klassische Businessfrau. Wenn ich dieses Bild vor dem Hintergrund des gerade Gesagten bewerte, dann sehe ich dort keine sexuelle Frau, gar nicht. Ich sehe eine Frau, die innerhalb des patriarchalen Systems funktionieren muss oder will, und die deshalb ihr fühlendes Wesen und dadurch auch ihre Sexualität weggeschlossen hat. Das Weibliche, die weibliche Erotik, das Feine, das Fühlende findet nicht statt. Denn Sexualität ohne Fühlen funktioniert nicht, ich wüsste zumindest nicht, wie das geht.

Dolores: Ja, das sind viele Schichten, die du ansprichst. Es gibt natürlich eine Schicht, auf der Sexualität, wenn sie intim ist, sehr viel mit Fühlen zu tun hat, wo auch ganz viele Gefühle hochkommen, und das ist der Teil, wo Liebe und Sexualität so ganz nah beieinander sind. Da zeigen sich schöne Gefühle, aber oft auch alte, schmerzliche Gefühle, da kommt schon was zusammen.

Andrea: Ja, es gibt diesen Moment, in dem ich entscheide – lasse ich jetzt los und vertraue, lasse ich die Gewaltigkeit der Gefühle zu? Und damit sind wir wieder bei der Liebe als Grundlage dieses Vertrauens und bei dem, was du eben sagtest, dass Liebe für viele zu einer wirklich erfüllten Sexualität dazu gehört.

Dolores: Und teilweise sind Liebe und Sexualität für die Frau auch deswegen miteinander verbunden, weil die weibliche Sexualität nicht akzeptiert ist. Sie muss sich in die Partnerliebe quasi retten, weil ihre Lust keinen Platz in der Gesellschaft hat, sie wird dann schnell als eine „Schlampe“ angesehen, oder die Lust wird pornografisch konnotiert. Also hat die Stärke einer Frau damit zu tun, dass sie diesen Teil wieder ganz zu sich nimmt, wieder ein „Ja“ findet zu ihrer Lust.

Andrea: Ja, da waren wir eben schon einmal und es gut, es nochmal zu wiederholen, dass nämlich in der Annahme und Akzeptanz dessen was (gerade) ist, eine große Stärke liegt.

Dolores, ich habe am Anfang über dich gesagt, dass dir die gemeinsame Forschung für einen tiefgreifenden kulturellen Wandel am Herzen liegt. Beruht dieser Wandel auf einem neuen Verständnis von Frau oder einem veränderten Verhältnis der männlichen und weiblichen Anteile in unserer Kultur? Woran würdest du einen Kulturwandel festmachen?

Dolores: Ich sehe es als einen Kern von Kulturwandel, dass wir unsere Geschlechterrollen in Frage stellen, sie neu erfinden und dass wir zu einer Kooperation der Geschlechter finden, dass wir auf Augenhöhe kommen. Und ein Teil dieses Wandels ist auch eine innere Balance, über die ich in meinem Inneren meine eigenen männlichen und weiblichen Anteile kennenlerne und ausbalanciere. Denn in uns allen sind männliche und weibliche Anteile und als Frau sollte ich mich auch mit dem männlichen Aspekt befreunden. Es gibt sehr viele Frauen mit einer heftigen Abwehr gegenüber Männern, die damit einen Teil von sich selbst ablehnen. Dadurch wird ihre Kraft kleiner.

Andrea: Und umgekehrt darf der Mann sich mit den weiblichen Anteilen aussöhnen. Wenn ich mich mit dem Paradigmenwechsel beschäftige, der vielleicht ins Haus steht, und sehe, welche Art von Gemeinschaften überall auf der Welt entstehen, dass zum Beispiel Matriarchate in der Wahrnehmung wieder eine größere Rolle spielen, Interbeing ein wichtiges Stichwort ist oder Co-Kreativität, dann glaube ich, dass unser nächstes Paradigma deutlich mehr weibliche Anteile hat. Dort wird viel mehr von dem gelebt und gebraucht, was wir weiblichen Archetypen zuschreiben und das würde ja bedeuten, dass speziell bei den Männern der Mut für ihre weibliche Seite entstehen darf. Und vielleicht könnte es eine Aufgabe von sozialen Kontexten sein, den Raum für diesen Mut, diese Öffnung zu bieten?

Dolores: Das ist schön formuliert. Ich denke auch, das weibliche Attribute wie Verbundenheit, die Achtung für das Leben, das Fühlen, Einfühlen oder Empathie Fähigkeiten sind, die das neue Paradigma braucht und die Männer sowieso auch haben können. Und tatsächlich ist es so, dass in Gemeinschaften viele Männer sind, die diese Attribute auch haben oder haben wollen. Und zugleich gibt es viele Männer, die mit Gemeinschaften nichts anfangen können.

Andrea: Angst? Auf den ersten Blick scheint ja die Frau immer das ängstlichere Wesen zu sein. Wenn ich allerdings genauer hinschaue und auf Verhaltensweisen achte, die Mauern vor Ängste setzen, dann würde ich – ohne Anspruch auf Ausschließlichkeit – behaupten, dass mindestens genausoviel Angst bei Männern ist. Andere Angst.

Dolores: Ja, andere Angst, und sie drückt sich anders aus, sie ist verborgener, ist versteckter, sie wird nicht gefühlt und wird halt gepanzert. Und Frauen haben eben auch die Rolle der Ängstlichen und der Schwachen, das ist so selbstverständlich und wir haben uns das kultiviert, indem wir in die Opferrolle gehen, in die Bedürftigkeit, ins Drama. Da haben wir uns gemütlich eingerichtet und uns einen subtileren Machtbereich aufgebaut, der sehr wirksam ist. Männer haben ganz schön die Hosen voll vor der Emotionalität der Frauen.

Andrea: Ja, ich finde sehr richtig, was du sagst. Die Männer haben die Hosen voll vor der Emotionalität und deswegen wird sie schnell ins Lächerliche gerückt. Dann brauchen sie sich nicht damit zu beschäftigen. Und was machen wir daraus? Was steht jetzt an?

Dolores: Also, es gibt ein Modell im Tantra, dort heißt es, dass beide Geschlechter eine Verletzung haben. Und die Verletzung ist bei beiden an der empfindsamen Stelle. Die empfindsame Stelle bei der Frau ist der Schoß und beim Mann ist es das Herz. Das ist die Stelle, wo er nimmt. Die Frau gibt mit dem Herzen, und der Mann nimmt mit dem Herzen und der Mann gibt mit dem Penis und die Frauen nimmt mit dem Schoß, und die beiden empfindsamen Stellen sind beide verletzt. Und das heißt, der Mann möchte lernen, sorgsam mit dem Schoß der Frau zu sein. Und genauso lernt die Frau, achtsam mit dem Herz des Mannes zu sein, weil das verschüttet und verschlossen ist, damit er in den Krieg geschickt werden kann. Und die entscheidende Dynamik zeigt sich, wenn Frauen den Mann im Herzen nicht erreichen, dann werden sie übergriffig, mit Emotionalität. Obwohl sie eigentlich Liebe schenken möchten. Ich finde das Bild so schön, weil man sieht, dass beide etwas tun können: Wir können gemeinsam unsere empfindsamen Stellen achtsam heilen.

Andrea: Das hat mich gerade sehr berührt. Danke.

Dolores: Schön, wenn es dafür auch Raum gibt.

Wir sprachen gerade über Paradigmenwechsel. Für mich gibt es auch in der Liebe einen Paradigmenwechsel, der über das persönliche Streben nach einer glücklichen Partnerschaft hinausgeht, hin zu einem Streben nach Bedingungen, unter denen Partnerschaften generell erblühen darf. Das ist für mich auch Kulturwandel, das ist auch das soziale Kunstwerk: Wie können wir das Thema Liebe aus dem Privaten herausholen? Ja, irgendwie kriegt es jeder hin, keiner redet drüber, man weiß, dass „da bei denen“ irgendwie Krach ist, aber das geht uns ja nix an und so weiter. Wir können das wieder in einen sinnvolleren, größeren Kontext einbetten, das möchte ich, glaube ich, noch mitgeben.

Andrea: Also die Liebe als gesellschaftliche Aufgabe. Das hört sich für mich ein bisschen an wie die – sinngemäße – Aussage von Erich Fromm aus seiner „Kunst des Liebens“, dass nämlich die Liebe eine Grundhaltung ist, eine Haltung, die alle Formen von Liebe einschließen muss. Ich kann demgemäß nicht sagen, dass ich meinen Partner liebe, mir aber alle anderen Menschen wurscht sind. Ist es das, was du meinst?

Dolores: Ja, eine Grundhaltung, auf jeden Fall und bei einem Menschen trifft sie vielleicht auf eine stärkere Resonanz, einen Seelenklang oder einfach auf ein Wiedererkennen von „Ja, wir sind es.“ Wenn ich aber nur dich liebe, dann entsteht das, was wir Othering nennen – hier sind wir und die anderen schließe ich aus meinem Raum aus.

Andrea: Dann wird aus der Liebe auch ein Besitzverhältnis?

Dolores: Ja, genau.

Andrea: Also müssen wir, wenn wir das vermeiden wollen, der Liebe als sozialem Kunstwerk und als Gemeinschaftsaufgabe wieder mehr Raum geben. Ich stelle mir gerade vor, ich ginge als Kommunikationsberaterin in ein Unternehmen – was ja durchaus vorkommt – und würde sagen: „Ihr müsst der Liebe mehr Raum geben.“ Na ja, es gäbe da vielleicht Unternehmer, die es verstehen würden, trotzdem stelle ich mir große Ungläubigkeit und Augenverdrehen vor.

Dolores: Dabei wäre es doch richtig schön, die Liebessituation der Mitarbeiter unterstützen zu können.

Andrea: Ich sehe die Liebe in diesem Kontext eher so, wie wir ganz am Anfang gesagt haben, nicht als Gefühl oder Zustand, sondern als Element, als Grundhaltung. Wenn sie auf diese Weise in das unternehmerische Tun einfließen würde und die Menschen sich bei jeder Entscheidung fragten: Wie würde die Liebe entscheiden?

Dolores: Dann entsteht ein neues Wirtschaftssystem, vielleicht eine Gemeinwohl-Ökonomie.

Andrea: Das finde ich schön. Ich glaube, ich werde demnächst öfter mal fragen, wie die Liebe entscheiden würde und zunächst danke ich dir, Dolores, für dieses tiefe, wunderschöne Gespräch.

Kontaktinfo:

Dolores Richter

dolores.richter@posteo.de

https://doloresrichter.com

Über das ZEGG: Das ZEGG – Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung – ist eine Lebensgemeinschaft von circa 100 Menschen und ein Bildungszentrum für Gemeinschaftsbildung, Kommunikation, Liebe & Sexualität, Nachhaltigkeit uvm. Es liegt 80 km südwestlich von Berlin in Bad Belzig.