Erfahrungswissen ist ein unschätzbar wertvolles Gut – für Menschen genauso wie für Unternehmen. Durch Erfahrung werden wir klug und können Routinen entwickeln, die den Alltag perfektionieren. Ob als Mensch beim Kochen, Autofahren oder Sockenanziehen oder als Unternehmen in der Anwendung von Best-Practice: Unser altes Wissen hilft uns immer dort, wo man aus den Ressourcen des Bekannten schöpfen kann, um Anforderungen zu bewältigen oder Probleme zu lösen. Genau hier aber lauert auch die Gefahr.

Erfahrung kann zur Falle werden

Wer „das-haben-wir-immer-so-gemacht“ zur Handlungsmaxime erklärt, wird jedes Problem als ein bekanntes einschätzen müssen, weil er es ja sonst nicht lösen könnte. Anders ausgedrückt: Wenn ich nur auf der Basis von Erfahrungswissen urteile, werde ich im Zweifel schon das Problem nicht erkennen – einfach, weil es noch nicht vorgekommen ist. Erfahrung kann zur Falle werden. Das sieht man an Big Playern wie Quelle, Kodak oder Nokia, die an internen Routinen und etablierten Geschäftsmodellen festhielten und nicht wendig genug für die unerwartete Veränderungskraft der Digitalisierung waren.

Die Digitalisierung und die dadurch entstehende Disruption von etablierten Geschäftsmodellen verlangen von Unternehmen die Fähigkeit, das Unerwartete zu managen. Das geht mit einer Haltung des bewussten Beobachtens – Achtsamkeit. Es geht darum, eine Situation nicht sofort zu kategorisieren oder zu bewerten, sondern unvoreingenommen zu sein. Achtsamkeit – Mindfullness – so wie ich den Begriff an dieser Stelle verstehen möchte, hat nichts mit Entspannung oder Esoterik zu tun.

Veränderte Handlungsmaxime

Achtsamkeit im Unternehmensumfeld erfordert einen Paradigmenwechsel vom Bekannten zum Unbekannten, vom Angenehmen (weil Vertrauten) zum Unangenehmen, vom Erwarteten zum vermeintlich Irrelevanten und von der Harmonie zum Widerspruch. Wer achtsam handeln will, befindet sich in einem permanenten Lernprozess, als Antwort auf den ständigen Veränderungsdruck der Umgebung. Da ich als Mensch oder Unternehmen nicht weiß, ob eine Situation mit altbekanntem oder disruptivem Potenzial auf mich wartet, muss ich mein Handeln komplett ändern. Bei der Frage nach dem „Wie“ treffen wir auf viele alte Bekannte aus der New-Work-Thematik: Positive Fehlerkultur, Umbruch von Silo- zu lateralen Arbeitsstrukturen, Transparenz, Kollaboration … Auf jeden Fall bedeutet die Ausrichtung des unternehmerischen Handelns am Prinzip Achtsamkeit, Lücken nicht zu- sondern aufzudecken – mit Mut und Selbstbewusstsein. Mehr Instinkt und Intuition, weniger Qualifikation und Wissen.

Was kann jeder Einzelne tun? Eine Menge! Fangen Sie heute damit an, indem Sie sich beim Mittagessen zu Kollegen setzen, die sie nicht kennen und eine Frage stellen, die sie noch nie gestellt haben. Seien Sie sich bewusst, dass Sie damit vielleicht etwas Unerwartetes in Gang setzen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift HR Performance.