Du gehst die schmale Asphaltstraße entlang. Rechts fließt der Fluss, Apfelbäume stehen Spalier, rot behangen, prall. Der Himmel, weiß-blau getupft, lässt das Herbstbunt der Gartenblumen leuchten, die vor den Häusern links des Weges stehen. Ein Haus fällt dir auf, alt ist es und prächtig: Fachwerk, weiße Balken, rote Ziegel. Eine liebevoll lackierte Tür erinnert an früher oder öffnet sich für die Zukunft. Im Weitergehen kannst du durch ein großes Fenster, vielleicht ein ehemaliges Scheunentor, einen Blick ins Innere des Hauses werfen.
Eine Sehnsucht schleicht sich ein, du kennst diese Sehnsucht. Sie ist ein Ziehen – hin und weg zugleich. Wie wäre es, dort zu leben, fragst du dich. Wie wäre es, morgens an dem blank polierten Holztisch Kaffee zu trinken und in den Nutzgarten zu schauen, in dem die Kürbisse unter grünen Ranken hervorquellen? Wie wäre es, mit dem grasgrünen Fahrrad, das neben einer Hoftür lehnt, ins Dorf zu fahren? Zum Einkaufen, zur Post, vielleicht zur Zahnärztin oder zum Friseur? Wie wäre es, unter dem Reetdach einen Schreibtisch stehen zu haben, mit Blick auf den Fluss, der in die Elbe fließt und weiter in die Nordsee?
Wie würden deine Worte sich verändern, deine Gedanken und Gefühle? Wer wärest du hier? Und wer würdest du sein, unterwegs in dem Reisemobil, das dir gestern auf der Autobahn aufgefallen war? Halten an immer neuen Orten, nirgendwo zuhause? Oder überall? Von jedem Ort ein Häppchen Leben aufsaugen, in sich aufnehmen. Diese Häppchen würden dich formen, dich verändern, würden einfließen in dein Sein.
Jeder Ort ein mögliches Leben. Eine Einladung, es auszukosten, ganz zu leben. Oder nur an ihm zu lecken und es dann wieder auszuspucken, wie früher als Kind die Campino-Bonbons. Anfangs waren sie dunkelrot und glatt, später im Mund dann spitz und scharf. „Spuck es aus!“, sagte die Mama. Kann man Leben anlutschen und ausspucken? Leben, Orte und ihre Daseinsgefühle als Möglichkeiten ausprobieren – wie fremde Kleider? „Passt mir das? Wie steht es mir, wie fühle ich mich in diesem roten Samt, in dieser weißen Spitze?“ Wie würdest du dich fühlen in diesem alten Haus, in diesem schicken Camper, in der umgebauten Scheune oder dem Holzhaus am See – wie würdest du dort leben, schreiben? Wem begegnen?
Und – wäre es dann noch dein Leben, das du leben würdest, dort in diesem Haus am Fluss mit dem grasgrünen Fahrrad? Oder würdest du ein anderes Leben stehlen? Und wer übernähme dann deins? Du wendest den Kopf ab von dem Fenster, in das du immer noch geblickt hast, ab von dem Holztisch, auf dem ein blauer Porzellanbecher steht.
Nicht deiner.
Du gehst weiter. Zurück in dein Leben. „Danke Ort“, flüsterst du. „Danke, dass ich dich probieren durfte. Etwas von dir wird bleiben.“