Gestern habe ich in der Zeitung gelesen, dass viele i-Dötzchen lange brauchen werden, bis sie ihr erstes „i“ schreiben. Immer mehr Kinder können bei der Einschulung weder Stift noch Schere richtig halten, haben so etwas noch nie in ihrem Leben in der Hand gehabt. (Hier findet ihr die Info) Ich stelle mir vor, dass diese Kinder wahrscheinlich noch nie gemalt haben, noch nie gebastelt haben, vielleicht nur auf dem Smartphone rumgewischt. Schnell sind wir dabei, etwas von „bildungsfernen Schichten“ zu murmeln und die Sache damit abzutun. Betrifft uns nicht. Wirklich?
Mal ganz ehrlich: Wann hast Du selbst das letzte mal einen Stift in der Hand gehabt? Hast Du dieses Jahr schon einen Liebesbrief geschrieben, oder ein Liebes-Zettelchen? Tagebuch geschrieben, Erinnerungen oder Gedanken notiert? Ich meine keine WhatsApp und keinen Fb-Post, sondern etwas, das mit Hand und Herz geschrieben ist. Etwas, das Deine Aufmerksamkeit und Zeit wert war und das deswegen die Zeit überdauert. Anders als das Dahingetippte, flüchtige. Meistens ist es schon nach wenigen Minuten im Thread verschwunden. Dieser Blogbeitrag ist ein Plädoyer für das Handgeschriebene, als Liebeserklärung an andere Menschen, an uns selbst und als ein Geschenk an den eigenen Kopf. Handschrift hat sogar die Macht, unser Leben zu verbessern.
Handschrift ist Hirnschrift
Es gibt eine direkte Verbindung zwischen Hand und Hirn. Es ist ein bisschen so, als würden wir mit der Hand denken, wenn wir schreiben. Wir aktivieren unsere Feinmotorik und gleichermaßen Hirnregionen, die für Sprache und Erinnerung zuständig sind. Beim Tippen passiert das nicht. Beim handschriftlichen Arbeiten wird das motorische Gedächtnis aktiviert, wir fühlen die Buchstaben beim Schreiben, sie sind wie mini-mini-kleine, mikromotorische Bewegungen, die sich in die Hirnrinde eingraben. Deswegen ist es genial, das Mit-der-Hand-Schreiben zum Lernen zu nutzen – wir legen damit Spuren im Gehirn ab und können diese wieder abrufen, wenn wir uns etwas merken wollen. Sprachdidaktiker betonen, dass unser motorisches Gedächtnis viel stabiler ist als das visuelle. Schreiben verankert Wissen viel besser im Kopf als Lesen und das mit der Hand geschriebene Wort ist viel schneller gelernt und viel besser erinnert als das getippte! (Mehr dazu hier)
Handschrift hilft beim Lernen und beim Leben
Die Psychologen Pam A. Mueller und Daniel M. Oppenheimer haben nachgewiesen, dass Studenten besser lernen, wenn sie Notizen mit der Hand machen statt per Computer. Die beiden beziehen es auf das Tempo, mit dem wir tippen – meistens schneller, als wir denken können. Deswegen bleibt beim Tastaturschreiben wenig hängen. Schreiben wir mit der Hand, haben Informationen und Lerninhalte genügend Zeit, den Weg ins Hirn zu finden und sich dort zu verankern. Wir meißeln sie dort ein, während wir schreiben. Meistens ist es dann ausreichend, wenn wir uns die Notizen vor der Prüfung noch einmal anschauen oder durchlesen – schon ist das Wissen wieder aktiviert.
Es ist, wie vorher schon beschrieben, ein quasi mechanischer Prozess – was Du mit dem Stift ins Papier „gravierst“, das legst Du gleichzeitig in Deinem Hirn ab. Damit ist Schreiben so etwas wie Fitnesstraining für unser Hirn und in diesem Zusammenhang sogar wichtig gegen Stress: Wir bringen Ordnung in unser Oberstübchen und werden klarer, fokussierter. Das Rauschen wird ruhiger, das „Monkey-mind“, wie die Buddhisten sagen, hat mit der Handschrift einen Kanal gefunden, um sich vom ständigen Zu-Viel an Gedanken zu verabschieden. Welche Erleichterung! Ich könnte mir vorstellen, dass regelmäßiges Briefe- oder Tagebuchschreiben sogar vor Demenz schützt, zumindest verbessert es die Erinnerungsleistung. Mittlerweile ist sogar bekannt, dass Denkvermögen und vor allem Denkgeschwindigkeit unsere Lebenserwartung erhöhen. Meine ganz persönliche Ableitung lautet daher: Wer öfter mal mit der Hand schreibt, lebt länger!
Rein damit – raus damit
Auch umgekehrt funktioniert die Hirn-Hand-Brücke: Wenn wir ein Thema verarbeiten oder erarbeiten wollen. Ärger mit dem Freund, neuer Job ja oder nein – den Themen, die uns beschäftigen, sollten wir künftig mit Stift und Papier zu Leibe rücken. Wie soll das gehen? Entweder, indem Ihr einfach intuitiv losschreibt, mindestens 20 Minuten, ohne zu korrigieren oder zu stoppen. Oder indem Ihr Euch eine konkrete Frage stellt, und diese dann im Schreibprozess beantwortet.
Indem wir einen Gedanken, ein Gefühl oder eine Erfahrung aufschreiben, verleihen wir ihnen eine besondere Bedeutung. Dieser Moment ist wichtig genug, um festgehalten zu werden. Einen Brief zu schreiben hat etwas Zeremonielles – ich nehme mir einen schönen Briefbogen, einen Stift, mit dem ich gut schreiben kann und bringe Gedanken zu Papier. Damit vermittle ich dem Empfänger oder der Empfängerin: Das was ich hier schreibe, liegt mir am Herzen. Du liegst mir am Herzen. Ich habe genau darüber nachgedacht, was ich schreibe. Es ist nicht einfach runtergetippt. Handschrift fördert das tiefe Nachdenken. Wir beschäftigen uns länger, intensiver mit einem Problem oder einer Fragestellung. Deswegen ist Schreiben so wichtig für unsere persönliche Entwicklung, denn die kann ohne Nachdenken, ohne Selbstreflexion nicht stattfinden.
Handschrift schafft eine Einheit
Verbundene Schriften ermöglichen es uns, Worte und Sätze als Einheit zu begreifen. Anders als bei einzelnen Buchstaben, die wir Stück für Stück begreifen müssen, sehen wir den „Hund“ direkt als Hund und brauchen nicht erst den zweiten Buchstaben, um ihn von der Hand zu unterscheiden. Der Verlust der Schreibschrift beeinträchtigt also die Wahrnehmungsfähigkeit der gerade heranwachsenden Generationen.
Druckbuchstaben bremsen
Ich habe in der Schule noch Schreibschrift gelernt – Du vielleicht auch? Seit einiger Zeit wird an den Schulen keine Schreibschrift mehr gelernt, weil angeblich immer weniger Schüler nicht mehr die nötige Bewegungsfähigkeit für verbundene Schriften haben. (Die Info findet Ihr hier) Da treiben wir den Teufel ganz prima mit Beelzebub aus – wenn Kinder etwas nicht mehr können, wird es einfach abgeschafft. Der nächste Schritt ist also folgerichtig – wenn Kinder Stift und Schere nicht mehr halten können, geben wir ihnen doch direkt im ersten Schuljahr den Tablet in die Hand? Huawei, Apple, Samsung und Co. freuen sich. Generell sehe ich den zunehmenden Einfluss von Unternehmen und Wirtschaft als Sponsoren von Geld und Lehrmitteln in unseren Schulen kritisch – wie siehst Du das?
Handschrift macht Gedanken begreifbar
In dem Moment, in dem Du zum Stift greifst, „begreifst“ Du besser, was Du aufschreibt. Ein A ist nicht nur irgendein Zeichen, sondern ein „A“. Dazu gibt es eine interessante Studie, die ich hier gefunden habe: 2012 ließ die Psychologin Karin James Kinder, die noch nicht schreiben und lesen gelernt hatten, Buchstaben auf eine von drei Arten zu reproduzieren: das Bild auf Papier anhand einer gepunkteten Linie nachzeichnen, es auf einem weißen Blatt freihändig zeichnen oder auf einem Computer tippen. Kinder, die die Vorlagen frei nachzeichneten, zeigten messbare Hirnaktivitäten in drei Bereichen, die auch bei Erwachsenen aktiv sind, wenn sie lesen und schreiben: der linken Spindelwindung, der unteren Stirnwindung und dem posterioren parietalen Cortex. Bei Kindern, die nur Punkte verbanden oder die Buchstaben gar tippten, war kein vergleichbarer Effekt erkennbar. Karin James vermutet, dass gerade die „Unordnung“ der mit der Hand geschriebenen Buchstaben den Lerneffekt vergrößert. Jedes handschriftliche A sieht ein kleines bisschen anders aus. Wenn Kinder in diesen Variationen immer dasselbe Buchstabensymbol erkennen, begreifen sie offenbar besser, was ein A eigentlich ist, als wenn man ihnen ein immer exakt gleiches Computer-A zeigt oder sie es tippen lässt.
Handschrift ist effektiver UND effizienter
Das dauert mir alles zu lange – tippen geht viel schneller. Stimmt nicht, eine Studie an der University of Washington hat gezeigt, dass Kinder mit Stift und Zettel mehr Text in kürzerer Zeit notieren können als mit einer Tastatur. Da nichts gelöscht oder ausgetauscht werden kann, schreibst Du mit der Hand außerdem durchdachter und damit effizienter.
Handschrift schützt vor Prokrastination
Mit Notizzetteln stoppen wir die Aufschieberitis, wir können uns motivieren und uns immer wieder daran erinnern, was wir ändern oder erreichen möchten. In diesem Sinne habe ich mir gerade einen Zettel an den Monitor gehangen: „Heute schon etwas mit der Hand geschrieben?“