Viele von uns haben sicher schon einmal darüber nachgedacht, sich schreibend der eigenen Geschichte zu nähern, denn es gibt eine ganze Reihe guter Gründe, sein Leben aufzuschreiben. Der Wunsch, damit einen Bestseller zu landen, ist in den seltensten Fällen der Antrieb für eine Biografie. Manche von uns wollen mit dem biografischen Schreiben die eigene Familiengeschichte erarbeiten, möchten Spuren suchen und finden, mehr über ihre Herkunft sowie die Vergangenheit der Eltern oder Großeltern erfahren. Viele möchten mit ihrer Geschichte etwas Wertvolles hinterlassen, ihre Erlebnisse (mit-)teilen und für ihre Kinder oder Enkelkinder aufbewahren. Manche möchten ein Herzensanliegen, das ihrem Leben Sinn gibt, in Worte fassen und an ihre Leser*innen weitergeben. Für fast alle hat das Schreiben auch eine therapeutische Wirkung: Wenn wir biografisch schreiben, können wir Schwierigkeiten auf den Grund gehen, Muster erkennen und mit den Erkenntnissen aus der Vergangenheit die Zukunft anders gestalten.

Ü-Ei

Sich besser verstehen, ein Anliegen in Worte fassen oder der Familie etwas hinterlassen: Das sind schonmal drei perfekte Gründe für das biografische Schreiben, quasi ein Überraschungsei. Leider ist der Gedanke „ich müsste das mal aufschreiben“ zusammen mit den 100.000 anderen „Müsste, Könnte, Sollte“ schnell wieder auf dem Schrottplatz der guten Vorsätze. Der Alltag vergräbt das Tagebuch weit hinten in der Nachttischschublade, der fordernde Job verlangt einen Ausgleich – wir wollen nicht noch mehr Zeit am PC verbringen. Der gewaltigste Bremser ist jedoch der Gedanke „Ich kann nicht schreiben“. Er verbietet sofort die weitere Beschäftigung mit der wunderbaren Idee, seine Geschichte zu Papier zu bringen.

Ein Plädoyer für das biografische Schreiben

Diesem Bremser-Gedanken sollten wir nicht weiter auf den Leim gehen! Jede/r kann schreiben, das ist meine Erfahrung aus über 20 Jahren Schreib-Arbeit.  Doris Dörrie schreibt in ihrem Buch „Leben, schreiben atmen“ (Diogenes-Verlag, 2019): „Wenn wir darüber nachdenken, was wir so denken, schämen wir uns schnell. Und wenn wir uns schämen, können wir schlecht schreiben. Wofür schämen wir uns? Wir schämen uns, dass wir uns anmaßen, über uns selbst zu schreiben, wir schämen uns für unser kleines Leben, für unsere Unzulänglichkeiten, unsere Lügen, unsere enttäuschten Erwartungen an das Leben und an uns selbst. Dieser Scham entkommt man nur, indem man nicht nachdenkt, sondern weiterschreibt (…).“

Das Schreiben ist etwas Wunderbares, es befreit und schafft Klarheit, weil es das Diffuse in unserem Kopf sortiert und zu Papier bringt. Das Chaos wird sichtbar und damit weniger bedrohlich. „Ich bringe meine Gedanken zu Papier“, sagt man. Und wenn sie dort auf dem Papier sind, dann kann ich sie einordnen und beurteilen oder ich schlage den Buchdeckel zu, schließe die Datei, habe Frieden. Meine Mandant*innen, mit denen ich biografisch arbeite, sagen mir, dass sie mit dem Schreiben einer Biografie ihre eigene Geschichte aus einer anderen Perspektive erleben möchten, vielleicht, um sie abzuschließen. Es geht ihnen darum, das Erlebte zu Papier zu bringen, um zu verstehen und zu verarbeiten. Schlussendlich können geschriebene Worte auch heilen – sie reißen eine Mauer des Schweigens nieder und bringen Klarheit in die eigenen Gedanken. Gefühlen wie Angst, Trauer, Wut, die wir immer unterdrücken, erhalten eine Katharsis.

Frauen schreiben

Gerade in meiner heißgeliebten Biografiearbeit mit und für Frauen gibt es für mich noch einen weiteren, einen wesentlichen Grund – eigentlich überhaupt den Grund, seine Biografie zu schreiben: Biografien von starken Frauen zeigen anderen, was alles möglich ist jenseits der virtuell überwundenen aber real existierenden Geschlechtergrenzen. Gerade die Lockdowns der letzten Monate haben uns klar gemacht, wie wackelig unsere weiblichen Errungenschaften sind. Es waren fast überall und fast automatisch die Mütter, die Home-Office und Home-Schooling verbinden mussten. Es waren die Frauen, die nebenher auch die Hausarbeit und die Betreuung von Eltern und Nachbarn übernommen haben. Und es waren die Frauen, die ihre mühsam aufgebauten Solo-Selbstständigkeiten „einfach“ aufgegeben haben – zum Wohle der Familie? Die Arbeitsmarktforscherin Jutta Allmendinger schätzt, dass uns die Corona-Krise in Sachen Gleichberechtigung um drei Jahrzehnte zurückwerfen könnte. (https://www.zeit.de/campus/2020-05/feminismus-rollenbilder-maenner-frauen-corona-krise)

Deshalb ist es wichtig, dass starke Frauen ein Beispiel geben für die anderen – Was kann ich erreichen, wenn ich mich traue? Wo finde ich mein Selbstverständnis, jenseits von Kumpel-Attitüde und Frauenquote? In der vom männlichen Karriere-Idealen und Rollenmodellen geprägten Arbeitswelt benötigen Frauen ganz dringend Vorbilder, die uns zeigen, wie wir Weiblichkeit, Würde und Weiterkommen verbinden. Diese Vorbilder finden wir nicht bei irgendwelchen Influencerinnen und auch nicht bei „Clubhouse“, sondern bei Frauen, die als Macherin etwas bewegt haben. Vielleicht als mittelständische Unternehmerin, vielleicht als Wissenschaftlerin, Künstlerin, vielleicht als Mutter, auf jeden Fall als Mensch haben unglaublich viele Frauen etwas bewegt und sie haben deshalb etwas weiterzugeben: Werte, Ideale und ganz konkrete Tipps.