Alltag. Was ist das eigentlich? Vielleicht eine monotone Reihe von Momenten, die so selbstverständlich geworden sind, dass wir ihnen keine Aufmerksamkeit mehr schenken? Dann sind wir alltagsblind geworden.

Wenn wir uns diesen Routine-Momenten mit Achtsamkeit, Bewusstheit und Herzenswärme zuwenden, öffnet sich ein Sandkorn und aus ihm heraus entsteht eine reiche Welt der Sinneseindrücke – so durften es meine Mitschreibenden von Schreiben – einfach so vorgestern erfahren. Im Alltagsschreiben kann aus einem Händedruck zum Beispiel so ein Text entstehen:

„Er gab mir die Hand zur Begrüßung und ich nahm sie – fühlte, wie sich das Ich und das Gegenüber trafen, berührten und umeinander legten. Der Ärmel seines Wollpullovers kitzelte mich am Handgelenk, ich sah die Adern auf seinem Handrücken schimmern. Mein Uhrarmband spannte plötzlich, der Druck hatte ihre Position ein wenig verschoben. Es war etwas Weiches, Volles im Griff seiner Hand, eine ganz leichte Feuchtigkeit konnte ich auch spüren. Zugleich war die Berührung haltbar und kraftvoll. Haut traf auf Haut und ich nahm kalt den Ehering wahr, der aus der warmen Hautfläche strahlte, die Rauheit einer Schwiele am Zeigefinger. Vom Schreiben? Vielleicht. Die Hände ruhten noch einen Moment ineinander, um sich dann langsam wieder zu lösen – ich hatte noch den Impuls, meine Hand auf´s Herz zu legen, um das Berührtsein bleibend zu machen. „Albern“, zensierte ich mich selbst, „lass das.“

Was lest Ihr in diesen Zeilen – was wird beschrieben? Eine Erschütterung? Ja? Doch letztlich „nur“ ein Moment, eine Berührung zweier Menschen, vielleicht im Treffen, vielleicht im Vorbeigehen – wer weiß. Eine Alltagsszene – wir erleben und sehen dergleichen unzählige Male im Laufe unseres Lebens und wissen gar nicht, welcher Zauber sich entfaltet, wenn wir mit unserer intuitiven, schriftstellerischen Präsenz in Alltagsräume lauschen. Uns horchend dem Alltäglichen auf die Spur begeben – der Mystik des Staubsaugens, der Überwältigung beim ersten Schluck Morgenkaffee, der staubigen Vertrautheit beim montagmorgentlichen Schritt ins Büro – hallo Kolleginnen.

Wenn wir unseren Alltag zum Schreibfeld erheben, dann werden kleine Freuden und Begegnungen, dann wird Selbstverständliches, Unbeachtetes zum Besonderen. Gleichzeitig schärfen wir sowohl unseren Wahrnehmungsmuskel als auch unser Schreibgefühl, unsere Fähigkeit, Sinneseindrücke in Worte zu verpacken und diese liebevollen Päckchen unseren Leser:innen zu schenken. In der schreibenden Begegnung mit dem Alltäglichen liegt eine Selbstermächtigung, die unsere Wahrnehmung zur Gestalterin unserer Welt erhebt. Eine Teilnehmerin meines Jahreskreises für Autor:innen beschrieb es folgendermaßen:

Kreativ ausdrücken, ohne zu zensieren
Welten erschaffen, die sich selbst entfalten
Mutig sein, den Worten folgen
Nichts ist zu verrückt oder zu langweilig, um nicht geschrieben zu werden

Genau. Darum geht es – nichts ist zu verrückt oder zu langweilig, um nicht geschrieben zu werden. Du glaubst, du hättest wenig zu sagen, nichts zu schreiben? Du wartest auf die Impulse dieses Newsletters oder anderer „Creative Influencer“? Vergiss es! Dein Leben ist Ideengeber pur – ständig, minütlich, sekündlich begegnen dir Dinge oder Situationen, über die du schreiben kannst, anhand derer du den Zauber der lebendigen Wirklichkeit in poetische oder nüchterne, feinsinnige oder banale Zeilen fassen kannst.

Und glaube bitte nicht, dass dieses Alltagsschreiben unnütz wäre, „nur“ eine nette Fingerübung; dass es dich auf deinem Weg zur Autorenschaft, den du vielleicht einschlagen möchtest, nicht unterstützt. Stöbere zum Beispiel beim bekannten Autor und Literaturprofessor Hanns-Josef Ortheil – er ist ein Meister des Alltäglichen, das er in zarte Worte fasst und uns in sein Erleben einlädt. Genau so verstehe ich den vielbemühten Ansatz des „Show don´t tell“ – in eine Situation hinein zu schmelzen, sich ihr völlig hinzugeben. Nichts zu erwarten, zu schreiben und zu staunen. Im Alltagsschreiben verlassen wir das Bedeutungsfeld des Gewöhnlichen und gehen in neue Räume. So hat es letztens eine Teilnehmerin meiner Schreibräume ausgedrückt – ist das nicht wunderbar? (Ich bin ein bisschen neidisch auf diese perfekte Formulierung. 😊)

Wenn wir beginnen, dem Alltäglichen in unserem Leben schreibend Raum und Bedeutung zu geben, dann hat das auch etwas mit Selbstermächtigung zu tun. Wir geben unserem Leben Macht und Relevanz. Denn letztlich ist es ausschließlich das Gewöhnliche, das unser Leben zu etwas Besonderem macht – Erleben für Erleben, Jetzt für Jetzt gehen wir voran und tun, was wir können. Und so geht es überhaupt nicht und nie darum, außergewöhnlich zu sein, etwas Herausragendes zu leisten. Ein Leben zeichnet sich nicht durch die Exzellenzmomente aus, sondern durch die kleinen, stillen, wie es zum Beispiel auch der meta-moderne Denker Jonathan Rowson im Interview mit der Zeitschrift Evolve (No. 41, S. 40 ff) ausdrückt: „Wir können unser Vertrauen in alltägliche Handlungen setzen, um die Welt wieder herzustellen. Sei es, dass man seine Kinder ernährt, zur Arbeit geht, freundlich ist, einfach die Dinge am Laufen hält – weil einem etwas wichtig ist, man an etwas glaubt.“

Uns so möchte ich euch einladen, dem Schreibimpuls des Jetzt eifrig zu folgen und die Zaubermomente im Alltag nicht zu suchen, sondern im Schreiben einfach zu finden: Eine Busfahrt, das Zähneputzen, der erste Krokus im Gartenbeet, ein Kuss oder – um noch einmal darauf zurück zu kommen – die Mystik des Staubsaugens (die auch eine Verzückung des Besenschwingens sein kann, wie ich diese Woche erfuhr 😊)