„Lass doch los!“, brüllt der Sportlehrer, doch wir halten die Stange krampfhaft fest, Angstschweiß auf der Stirn. Wie so oft im Leben gibt uns diese Stange Sicherheit, darunter lauert der vermeintliche Abgrund. Ähnliche Sicherheit, wie sie die Hand des Vaters bot, der Griff im schaukelnden Bus, das Glas Wein, an dem wir in verklemmter Runde dankbar nippen. Aber auch unsere Meinungen und Urteile, über uns und über andere, geben uns Sicherheit – sie schaffen die Welt, wie wir sie kennen. Sie bilden einen festen Handlungsrahmen, in dem wir darauf vertrauen können, dass es auch morgen so ist wie heute. Festhalten an all dem bedeutet nicht nur Sicherheit und Kontrolle, sondern auch Geborgenheit. Andererseits ist Loslassen die Voraussetzung für Bewegung: Wir lassen die Hand des Vaters los und laufen selbst, wir fahren Fahrrad, wir wagen den Bungeesprung. Wer nicht loslässt, hat keine Hand frei, um Neues zu er-greifen, zu be-greifen.

Auf sich selbst verlassen

Ich denke an die vielzitierte Geschichte von dem Affen, der die einmal ergriffenen Nüsse nicht loslassen kann und deswegen seine Pfote nicht mehr aus dem Nuss-Glas heraus bekommt. Er kann sich nicht bewegen, er kann nicht essen, trotzdem kann er den einmal ergriffenen Schatz nicht loslassen.

Wenn ich loslasse, was ich bin, werde ich, was ich sein könnte. Wenn ich loslasse, was ich habe, bekomme ich was ich brauche. (Lao-Tse)

Am Wochenende durfte ich in einem liebevollen Rahmen an einem Seminar zum Thema „Loslassen und Annehmen“ teilnehmen. Das Thema beschäftigt mich schon länger und ich glaube, dass es gerade in kreativen Berufen – aber eigentlich überall dort, wo Ideen und der Umgang mit Neuem gefragt sind – essenziell ist, das Loslassen zu üben. Nur durch Loslassen lässt sich Frei-Raum für andere Gedanken, andere Meinungen, neue Sichtweisen schaffen. Gerade vor dem Hintergrund einer zunehmenden Komplexität im innen wie im außen, sind wir alle aufgefordert, durch Selbstdenken eine Situation zu bewältigen oder zu verstehen. Wir sollten uns mehr auf uns selbst und weniger auf andere verlassen. Daher ist es wichtig, seine eigene Loslass-Fähigkeit zu überprüfen. Wir könnten uns also fragen:

  • Wie offen bin ich gegenüber neuem – oder halte ich an gefassten Plänen, gemachten Erfahrungen, erworbenem Wissen fest? („Das haben wir immer so gemacht.“)
  • Wie leicht fällt es mir, meine Meinung in Frage zu stellen oder ist das Eingeständnis, dass ein anderer auch Recht haben könnte, ein Zeichen von Schwäche?
  • Wie sehr brauche ich Kontrolle, um Sicherheit zu spüren?
  • Wie sehr beherrscht all das, was ich von Eltern, Lehrerinnen, Vorbildern über das Leben gelernt habe – meine Glaubenssätze – mein Denken über die Welt?

Der nächste (mutige) Schritt wäre zu überlegen, welche von diesen Glaubenssätzen ich loslassen kann und darf, weil sie nicht mehr stimmen, weil sie mich einschränken. „Das schaffst du sowieso nicht.“ „Eine Frau darf das nicht.“ „Stell dich doch nicht so an.“ „Kannst du nicht einfach mal normal sein?“ … Es gibt Sätze, die hören wir so oft, bis wir sie glauben. Sie werden Teil unseres Weltbilds und formen die (zu engen) Grenzen, innerhalb derer wir uns bewegen. Sie sind oft auch die Quellen unserer Konflikte. Deshalb könnten wir beginnen, diese Sätze erstens zu identifizieren und zweitens loszulassen. Den dadurch frei werdenden Raum in unserem Denken könnten wir durch Botschaften ersetzen, die uns nicht beschränken, sondern unseren Freiraum vergrößern. Das mag jetzt – je nach Perspektive – banal oder unmöglich klingen. Und ich gebe zu, dass es weder einfach noch leicht ist, denn wir versuchen etwas loszulassen, das zu einem betonierten Bestandteil unserer Persönlichkeit geworden ist. Aber eine Persönlichkeit kann und darf sich entwickeln. Dank Wissenschaftlern wie Gerald Hüther wissen wir um die sogenannte Neuroplastizität. Wir wissen, dass unser Gehirn mit jeder neuen Erfahrung neue neuronale Verbindungen eingeht. Lebenslang! Wenn wir altes loslassen, können wir neues lernen und als „neue Normalität“ verankern. (So wie das Maskentragen gerade schleichend zur neuen Normalität wird – aber das ist ein anderes Thema.)

Erwartungen loslassen

All das, von dem wir denken, dass es so sein muss oder dass man so sein muss – das könnten wir loslassen, sobald wir die Einschränkungen erkennen. Unsere Erwartungen an uns, an unseren Partner, die Kollegin, Eltern und Freunde – wenn wir Erwartungen loslassen, entsteht ein Raum, in dem wir uns als Menschen wirklich und authentisch begegnen können, in dem wir nicht mehr enttäuscht sein müssen, weil unser Gegenüber sich anders verhält, als wir es erwartet haben. Wir lassen los, weil wir verstehen, dass unsere Erwartungen nicht das geringste mit der Realität und dem Augenblick zu tun haben. Dass sie auch nichts mit unserem Gegenüber zu tun haben, sondern nur mit unserer Art zu sein und zu denken. Wenn wir loslassen, geben wir dem anderen seinen Frei-Raum zu sein, wie er ist. Und uns den Raum, neue Erfahrungen gegen alte Erwartungen einzutauschen. Denn letztlich ist es egal, was wir erwarten. Die Dinge werden geschehen, ob wir das wollen oder nicht. Wenn wir an unseren Erwartungen festhalten und darauf bestehen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann geschieht trotzdem, was geschehen soll. Der Unterschied liegt ausschließlich in unserer Wahrnehmung. Wir haben die Wahl, ob wir darunter leiden möchten oder Erwartungen loslassen und das was ist, annehmen. „Nichts ist entspannter als das anzunehmen was kommt“, sagt der Dalai Lama. Zugegeben fällt diese Verhaltensänderung erst mal schwer, denn damit geben wir den Halt auf, den uns Erwartungen und Erfahrungen uns geben – wir verlassen die Komfortzone der Kontrolle.

Stattdessen sollen wir plötzlich vertrauen, denn Vertrauen ist die Voraussetzung für Loslassen. Vertrauen in uns und unsere Fähigkeiten. Vertrauen in andere Menschen, dass sie wollen und können, wenn man sie lässt. Und letztlich auch Vertrauen in das Leben, das uns immer genau mit den Situationen konfrontiert, die wir im Moment zum Wachsen benötigen. Früher war es der Vater, der unsere Hand losgelassen hat, im festen Vertrauen, dass wir laufen können. Jetzt lassen wir selbst los und vertrauen auf unsere Fähigkeiten – stellen uns zum Beispiel selbst vor 500 Kollegen, um eine Idee zu präsentieren, die wir sonst nur der Vorgesetzten mitgeteilt hätten.

Was sollen die anderen denken?

Vertrauen und Loslassen gehören zusammen. Sie schaffen den Raum, in dem es uns möglich wird, frei von den eigenen Erwartungen und vor allem von den Erwartungen anderer zu handeln und zu denken. „Huch – was sollen die anderen denken?“ Keine Ahnung. Aber ist das wirklich wichtiger für dein Leben als das, was du selbst denkst? Sollte nicht hier der Fokus liegen – auf den eigenen Gedanken, den eigenen Gefühlen, dem eigenen Erleben? Weniger Orientierung am Außen, viel mehr Vertrauen auf das eigene Sehen, Fühlen, Empfinden. Wie soll das gehen? Wir können zum Beispiel beginnen im alltäglichen Tun darauf zu achten, was im Moment gerade geschieht. Wie fühlt sich die Tasse Kaffee in der Hand an? Wie riecht der Kaffee, wie schmeckt er, welche Emotionen lösen Geruch und Geschmack bei mir aus? Wir können darüber nachdenken, welchen weiten Weg dieser Kaffee genommen hat, wieviele Menschen überall auf der Welt daran beteiligt waren, damit wir hier genau diese Tasse Kaffee genießen können. Wenn wir öfter auf diese achtsame Art im Moment verweilen, entsteht etwas ganz Kostbares: ein Zeitfenster, in dem wir alles loslassen, weil wir für einige kleine Momente ganz bei uns sind, ganz bei dem, was gerade passiert. Wir hören auf zu rennen und zu müssen – wir dürfen loslassen und einfach nur sein. (Und dann könnten wir zum Beispiel zu einem Stift und einem Blatt Papier greifen und im intuitiven Schreiben fünf Minuten lang die Frage beantworten: „Wer bin ich gerade in diesem Moment?“)