In einem meiner aktuellen Interviews über starke Frauen ging es unter anderem um Perfektionismus und mir ist (nochmal) klar geworden, dass es völlig nutzlos ist, diesen Zustand anstreben zu wollen. Es gibt keine perfekte Lösung, keinen perfekten Zustand, keine perfektes Leben, keinen perfekten Job, Beziehung und so weiter: Irgendwas ist immer. Dieses Irgendwas nennt sich Leben.
Schon Kurt Tucholsky wusste das, als er schrieb „Tröste Dich, jedes Glück hat einen kleinen Stich.“ (Das ganze wunderbare Gedicht lest Ihr unter diesem Blog)
Ich habe deswegen beschlossen, öfter mal fünfe gerade sein zu lassen, den Schrank staubig, die Wäsche ungewaschen und ich übe auch, mich damit abzufinden, dass in jedem meiner Blogbeiträge ein Rechtschreibfähler ist, obwohl ich viermal Korrektur gelesen habe. ????
80 Prozent mehr Zeit
Einer meiner Lieblingsgrundsätze ist schon lange das Pareto-Prinzip – es besagt, dass wir 80 Prozent der Ergebnisse eines Prozesses (Gespräch, Arbeit …) mit 20 Prozent des Gesamtaufwands erreichen. Die verbleibenden 20 Prozent des Ergebnisses erfordern dann mit 80 Prozent des Gesamtaufwands die quantitativ meiste Arbeit. (siehe zum Beispiel Wikipedia) Was für ein Verhältnis! Wieviel Zeit, Mühe und Lebendigkeit können wir sparen, wenn wir es bei den 80 Prozent belassen und auf die 20 Prozent Perfektion pfeifen!
Ein paar (unperfekte) Gedanken über Perfektion
- Wer will schon Perfektion – Schönheit zeigt sich im Unperfekten, die Natur macht es vor – keine Blume gleicht der anderen, kein Baum, kein Lebewesen und doch sind sie gerade deswegen alle wunderschön.
- Perfektion ist langweilig – möchten wir perfekt sein oder eine einzigartige Persönlichkeit? Wenn ich als Mensch versuche, einem Ideal (einem Schönheitsideal, einem spirituellen Ideal …) zu gleichen, dann passe ich mich an – meine Einzigartigkeit geht verloren.
- Perfektion verhindert Kreativität – weil wir versuchen, etwas zu „erfüllen“, anstatt uns zu fragen „Wenn es so nicht geht, wie geht es dann?“
- Perfektionismus hängt oft mit dem Wunsch nach Kontrolle zusammen. Wir wollen alles im Griff haben, alles planen und uns versichern, dass wir „safe“ sind. In den meisten von uns ist dieses Streben nach Sicherheit fest verankert und es reicht manchmal schon, wenn wir uns bewusst machen, das gerade wieder Ms. Perfect die Kontrolle übernimmt.
- Was denn stattdessen? Vertrauen in das Leben, dass es uns genau die Lösung anbietet, die die richtige für uns ist. Das genau das passieren wird, was passieren soll. Loslassen und einfach dem Fluss des Lebens folgen. Ich schreibe „einfach“, obwohl ich weiß, dass es sauschwer ist – ich weiß das, denn als hochsensibler Mensch bin ich ganz oft damit beschäftigt, meine Komfortzone durch möglichst viel Planung abzusichern. Aber wir sind ja hier auf der Welt, um zu lernen und ich werde weiterüben …
- Perfektionismus hört auf den inneren Kritiker – dessen Ursprung vielleicht in unserer Kindheit zu finden ist, vielleicht aber auch in der Gesellschaft, die uns pausenlos das perfekte Ideal vorspiegelt – in Werbeanzeigen, Casting-Shows …
- Perfektionismus ist Fassade. Scheinbar alle um mich herum sind perfekt – warum bloß ist bei mir immer so ein Chaos? Die Freundin in München schafft Vollzeitjob, Familie, zwei Ehrenämter, pflegt die Eltern und die kranke Nachbarin auch gleich noch mit und dabei ist sie immer fröhlich! Und ich? Bin manchmal/oft/immer überfordert, und dass ohne Kinder, ohne pflegebedürftige (Gott sei Dank!) Eltern, ohne Ehrenamt … Was hier hilft – hinter die Kulissen schauen, in einem Kreis von Gleichgesinnten, die ehrlich und offen miteinander sprechen, die zuhören und sich mit-teilen. Schnell wird klar – hey, bei denen sieht´s ja genauso aus und die denken auch von mir: „Wie schafft die das nur alles?“
Perfektionismus beim Schreiben
Ganz schlecht. Eine der häufigsten Gründe für Schreibblockaden. Wir arbeiten auf ein erwünschtes Ergebnis hin und das Soll wird zum Muss. Wir überarbeiten noch einmal und noch einmal, feilen hier und basteln dort, lesen x-mal Korrektur und fragen 10 Freundinnen und Bekannte, wie sie den Text finden. Und wenn wir dann etwas veröffentlichen, bleibt ein mulmiges Gefühl. Oder wir schreiben erst gar nicht weiter, die Stimme des inneren Kritikers sagt uns: Das wird sowieso nix, lass das mal, du kannst das nicht. Du? Ein Buch schreiben? Lächerlich. Schreib du mal lieber weiter Werbetextchen, damit verdienst du gutes Geld.
Ach, und was ich gerade merke – ich recherchiere jetzt ein bisschen zu Perfektionismus und finde immer noch ein Argument und noch einen guten Artikel und noch einen Tipp, eine Sichtweise, die ich mit Euch teilen möchte. Es ist nie genug. Oder – anders gesehen: Wann genug ist, entscheide ich.
Anders Gesehen
Genau darum könnte es gehen – wir könnten anfangen, die Dinge anders zu sehen. Was mir hilft, ist das Wissen um die Verschiedenartigkeit der Wahrnehmungen. Da jeder Mensch in seinen Beobachtungen, seiner Bewertung, seinem ganzen Sein einzigartig ist, wird es NIE passieren können, dass alle Welt meine Texte, meine Taten, meine Antworten oder Fragen toll findet. Es wird IMMER so sein, dass ich einen Teil mit meiner Botschaft erreiche und andere eben nicht. Vielleicht gibt es auch nur eine einzige Person, die genau diesen Blog jetzt liest und denkt: Bow, genau das brauchte ich jetzt. Diese Person beschließt vielleicht, die Wäsche ungebügelt in den Schrank zu legen (Pareto-Prinzip) und stattdessen einen Spaziergang zu machen – bei dem sie dem Mann ihrer Träume begegnet. Seht Ihr, das kann alles passieren, wenn wir weniger leisten und mehr leben. ????
Und jetzt?
Es gibt viele Tipps und Tricks „gegen“ Perfektionismus – nutzt einfach mal eine Suchmaschine, das Web ist voll davon – ich brauche sie hier nicht aufzuführen. Außerdem – ist „gegen“ sowieso nie gut – nehmen wir den Perfektionismus doch einfach als einen Anteil unserer Persönlichkeit an, umarmen ihn liebevoll, wenn er mal wieder schreit: Nein, das geht so nicht und dann … tun wir sowieso das, was das Leben gerade für uns vorgesehen hat.
Ich zum Beispiel veröffentliche diesen Blogbeitrag jetzt, obwohl er sicher nicht perfekt ist.
Das Ideal
Ja, das möchste:
Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße;
mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn –
aber abends zum Kino hast dus nicht weit.
Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit:
Neun Zimmer – nein, doch lieber zehn!
Ein Dachgarten, wo die Eichen drauf stehn,
Radio, Zentralheizung, Vakuum,
eine Dienerschaft, gut gezogen und stumm,
eine süße Frau voller Rasse und Verve –
(und eine fürs Wochenend, zur Reserve) –
eine Bibliothek und drumherum
Einsamkeit und Hummelgesumm.
Im Stall: Zwei Ponies, vier Vollbluthengste,
acht Autos, Motorrad – alles lenkste
natürlich selber – das wär ja gelacht!
Und zwischendurch gehst du auf Hochwildjagd.
Ja, und das hab ich ganz vergessen:
Prima Küche – erstes Essen –
alte Weine aus schönem Pokal –
und egalweg bleibst du dünn wie ein Aal.
Und Geld. Und an Schmuck eine richtige Portion.
Und noch ne Million und noch ne Million.
Und Reisen. Und fröhliche Lebensbuntheit.
Und famose Kinder. Und ewige Gesundheit.
Ja, das möchste!
Aber, wie das so ist hienieden:
manchmal scheints so, als sei es beschieden
nur pöapö, das irdische Glück.
Immer fehlt dir irgendein Stück.
Hast du Geld, dann hast du nicht Käten;
hast du die Frau, dann fehln dir Moneten –
hast du die Geisha, dann stört dich der Fächer:
bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher.
Etwas ist immer.
Tröste dich.
Jedes Glück hat einen kleinen Stich.
Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten.
Daß einer alles hat:
das ist selten.
(Kurt Tucholsky, 1927)