„Au Mann, schon wieder so ein Haus mit fünf Wohnungen und 35 Bewohnern“. Tina stöhnt. Ich nicke frustriert und schaue auf die Liste. „Die melden sich alle nicht um, deswegen sind sie noch beim Einwohneramt gemeldet und wir können jetzt Spagetti entwirren. Na ja, lass uns mal klingeln.“

Es ist 1987 und meine Schulkameradin Tina hat mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, sie bei der Volkszählung zu unterstützen. Völlig unpolitisch, naiv und fröhlich sind wir losgezogen und waren hinterher um Wissen, viele politische Meinungen und einiges Geld reicher. Das wurde nämlich gar nicht schlecht bezahlt, damals.

Zurück an die Lütticher Straße in Aachen, Hausnummer 234. Wir klingeln bei „Bösmann“. „Nomen est omen“, witzeln wir, das große Latinum frisch in der Tasche. Der Türdrücker röhrt und wir schlüpfen in den Hausflur des schönen, stuckverzierten Altbaus. Rechts im Flur steht die Wohnungstür einen Spalt auf und wir nähern uns. „Kommt gleich“, hören wir eine leise Frauenstimme. Wir warten im Flur. Die Tür geht auf und vor uns steht eine junge, schlanke Frau, zartes Gesicht, lange schwarze Haare, einen Säugling im Arm. Später wird Tina zu mir sagen, dass sie sofort an Maria und das Jesuskind denken musste und in der Tat, die beiden haben etwas ganz Inniges, Zugewandtes an sich. Die junge Frau schaut uns fragend an und wir starten mit unserem Sprüchlein: „Guten Tag, kommen vom Einwohnermeldeamt …“

„Perdonen, no hablo aleman, mi marido no esta. Pueden Volver mas tarde, por favor”

“Wä?” Tina und ich schauen erst uns und dann die junge Dame ratlos an. Sie blickt zurück und lächelt schüchtern. Wir grinsen, hilflos. „Momentito“, sagt sie. Soviel verstehen wir dann auch – sie drückt sich an uns vorbei und geht zur Nachbarwohnung, klingelt und eine ältere Dame mit grauweicher Frisur und akkuratem, hellblauem Twinset öffnet die Tür. Sie lächelt, als sie ihre Nachbarin und das Baby sieht und fragt freundlich „Ja, bitte?“. Nachdem die junge Mutter auf uns gezeigt und wild mit den Schultern gezuckt hat, wendet sich die Dame fragend an uns und wir wiederholen unser eingespieltes Sprüchlein „Wir kommen vom Einwohnermeldeamt…“ Weiter kommen wir wieder nicht, es ist wie verhext.

„Die junge Dame kommt aus Costa Rica“, erklärt uns die Nachbarin, „und versteht sie nicht.“ Na, soviel wussten wir auch schon. „Sie ist ganz frisch mit ihrem jungen Ehemann hier angekommen, die beiden haben noch gar keine Unterkunft, wohnen hier bei der Schwester des Ehemanns, provisorisch. „Das ist eine ganz tolle Geschichte…“, die Dame stellt sich neben ihre Nachbarin und holt anscheinend zu einer längeren Erzählung aus. Tina und ich lehnen uns an die Flurwand, das könnte spannend werden.

„Sie müssen sich vorstellen“, freut sich die Dame“, „die beiden hatten sich in Costa Rica über ein Hilfsprojekt kennengelernt und sich sofort ineinander verguckt. Aber dann ist Bernd – das ist ihr Mann …“ – die Dame zeigt auf die junge Frau, die anscheinend versteht, das hier gerade ihre Geschichte erzählt wird und eifrig nickt – „… also Bernd ist wieder zurück nach Deutschland, schweren Herzens, weil die beiden meinten, dass ihre Beziehung nicht funktioniert, Maria wollte nicht ohne ihre Familie sein, Bernd glaubte, nicht ohne seinen Job existieren zu können. Wie es halt heute so ist. Und dann haben beide festgestellt, dass all das eigentlich total unwichtig ist und Maria hatte beschlossen, nach Deutschland zu kommen. Währenddessen hatte Bernd schon seinen Job gekündigt, um nach Cosa Rica zu gehen. Stellt euch mal vor“, die Dame lächelt, „im Zweifel hätten sich sogar die Flieger überkreuzen können, das wäre was gewesen, oder? Aber …“, sie drückt die junge Frau liebevoll an sich, „…glücklicherweise sind wir Frauen ja verständiger als viele junge Männer und deswegen hat Maria vorher dem Bernd dann doch Bescheid gegeben. Der ist dann hin, nach Costa Rica, und hat sie abgeholt. Ja, und das Ergebnis der Wiedersehensfreude“, die Dame schmunzelt“, das ist hier der kleine Benedetto. So siehts aus. Also – meine Damen. Hier wird heute nix gezählt, die Herrschaften sind nur zu Gast.“ Wir nicken ein wenig sprachlos und freuen uns, eine weitere wunderbare Geschichte in unseren Koffer der Volkszählungs-Begegnungen hinzufügen zu können. Eine Art Weihnachtsgeschichte, und das im Juni.

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