Vor mir liegt ein leeres Blatt. (Oder vor mir dräut ein sehr weißer Bildschirm.) Es gilt, einen Blogartikel zu schreiben oder den ersten Satz für eine Biografie, ein Ghostwritingprojekt zu finden. Schreibblockade? Wie auch immer – ich soll aus diesem Weiß etwas machen, das mit sinnvollen Buchstaben gefüllt ist, welche wiederum Wörter ergeben und – Simsalabim – eine packende Geschichte erzählen.
Was tue ich gegen die weiße Leere? Ich kann mir sagen, das aller Anfang schwer ist, mir eine Tasse Tee holen und weiter auf die endlose Weite der Bildschirm-Savanne schauen. Oder ich setze eine Kreativtechnik ein, die mein Hirn in Schwung bringt, wie zum Beispiel das Clustern. Wobei ich die Cluster-Technik ganz besonders mag, weil sie als Methodik des kreativen Schreibens auch hervorragend geeignet ist, das Bewusstsein für die eigenen Gedanken und Gefühle zu stärken.
Wer clustert wen warum?
Das Clustern (oder „Clustering“ zu deutsch: Schwarm, Bündel, Haufen) wurde von Gabriele Rico entwickelt. Diese Dame begegnet uns immer wieder, wenn wir uns mit dem kreativen Schreiben beschäftigen, denn sie war eine recht einflussreiche Schreiblehrerin. Ihr Buch Garantiert schreiben lernen (Originaltitel: „Writing the natural way“) gilt immer noch als Standardwerk des kreativen Schreibens, obwohl es einige Jahrzehnte auf dem Buckel hat. In diesem Buch beschreibt Rico erstmalig das Clustern als eine assoziative und kreative Methode.
Beim Clustern werden Assoziationsketten gebildet und aufgeschrieben, die von einem Zentralwort ausgehen. Diese Assoziationsketten werden dann weitergeführt, indem von ersten Begriff aus zum nächsten assoziiert wird und so weiter. Da vom Grundbegriff ausgehend mehrere Assoziationsketten möglich sind, entsteht ein Bild, das auf den ersten Blick einer Mindmap ähnelt. Aber es gibt einen großen Unterschied. Mindmapping wird planend und organisierend eingesetzt, weil es strukturiert und Themen hierarchisch ordnet. Das Clustern ist das genaue Gegenteil – es ist intuitiv und ungeordnet. Die Verbindungen zwischen den Begriffen müssen für Außenstehende keinen Sinn ergeben, ja, es geht eigentlich genau darum: Frei für das Sinnlose zu werden, den Un-Sinn zuzulassen und neue, außergewöhnliche Verbindungen zu finden. Verbindungen, die nur für uns existieren, die in unserem Kopf, in unserer Fantasie entstehen. Und nur dort.
Was hinter großen Worten wirklich steckt
Deswegen ist Clustern, wie ich oben schon erwähnte, auch eine wunderbare Methode, um sich selbst zu hinterfragen, denn es ermöglicht uns den Ausbruch aus gewohnten Denkbahnen. Gerade, wenn es um Flutschworte wie etwa „Hoffnung“, „Treue“ oder „Toleranz“ geht, ist es mega-spannend, einmal die Clustertechnik auf so einen Begriff anzuwenden und zu schauen, was wir wirklich, wirklich mit so einem „großen“ Wort, mit so einem Wert verbinden. Damit ist Clustern übrigens auch eine hervorragende Gruppenübung, mit der sich Diversität ganz einfach zeigen und anerkennen lässt. Es ist nämlich sehr wahrscheinlich, dass alle Teammitglieder andere Assoziationen und ganz andere Assoziationsketten entwickeln werden. Und was lernen wir daraus? Jeder Jeck ist anders und ich kann nicht davon ausgehen, dass jemand mich sofort versteht, wenn ich von Werten wie Toleranz oder Rücksicht spreche. (Im Umkehrschluss bedeutet das: Ab in den Müll mit all den tollen Leitbildern und Mission-Statements! Es sei denn, sie sind wirklich in einem aufwändigen Bottom-Up-Prozess mit Leben gefüllt worden, aber …) Clustern macht uns eines klar: Kommunikation ist eine weite Wüste – ähnlich wie ein weißer Bildschirm – und es braucht sehr viel Übung, um sich untereinander wahrhaftig zu verstehen. Das Missverständnis ist eben nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall. Wenn wir das als Tatsache akzeptieren, dann ist bereits der erste Schritt zu einer anteilnehmenden Kommunikation getan, die das tiefe Zuhören etabliert und die Frage nach der Welt des anderen stellt – „Wie meinst Du das eigentlich, wenn Du „Toleranz“ sagst?
Abschweifen als Kunst
Aber ich schweife ab – Dichterfürst Hildegunst von Mythenmetz lässt grüßen. Wobei, im Bezug auf das Clustern ist das Abschweifen eigentlich der richtige Weg, denn er führt uns zurück zur Methode. Beim Clustern sollen wir schweifen, schwärmen, unsere Gedanken flanieren lassen. Man nimmt das Zentralwort auf und schaut, was in den Sinn kommt. Bleibt nicht bei diesem Begriff hängen, sondern schaut, wohin er einen führt – dann entstehen Verbindungen zwischen Themen, die wir (rational) gar nicht erwarten. Wir assoziieren wild weiter, ohne lange zu überlegen und vor allem ohne darüber nachzudenken, ob das Geschriebene sinnvoll ist oder „schön“. Es ist eine Technik des intuitiven Schreibens, die nichts mit Konzept, nichts mit Strategie zu tun hat. Wenn eine Assoziationskette endet, gehen wir zurück zum Zentralbegriff oder ein anderer Begriff springt uns an und fordert von uns das unbedingte Weiterdenken, Weiterführen. So ergeben sich auch immer wieder Querverbindungen zwischen Assoziationsketten und am Ende entsteht das Bild einer Geschichte, rund um das zentrale Wort.
Ein bisschen Psychologie
Das Clustering ist eine Technik, die unsere beiden Hirnhälften verknüpft, das logische und das schöpferische Denken. Wenn wir mit der Sprache arbeiten – was wir beim Schreiben zwangsläufig tun – hängen wir oft in unserer linken Hirnhälfte fest, die neben der Sprache auch das rationale, logische Denken steuert. Das führt dazu, das wir uns beim Schreiben ständig fragen: „Geht das? Passt das? Liest sich das gut?“ Die Links-Denkerin kritisiert, zensiert und wertet. Deswegen müssen wir die Verbindung Sprache/Schrift austricksen, damit wir an die rechte Hirnhälfte herankommen, Kreativität und Intuition aktivieren. Das geht – ihr werdet es ahnen – zum Beispiel über das Clustern und fällt natürlich Menschen generell leichter, die eine gute, stabile Verbindung zu ihrer Intuition, zu ihrem Bauchgehirn haben.
Aus dem Clustern entstehen Geschichten
Wir haben vor kurzem in einem Schreibworkshop gemeinsam das Clustern ausprobiert und unsere Cluster in Geschichten, Gedichte oder Konzepte einfließen lassen. Es sind ganz wunderbare, berührende, teilweise auch sehr lustige Ergebnisse dabei herausgekommen. Versucht es – experimentiert einmal, was das Clustern Euch noch für Einsatzmöglichkeiten offenbart und schreibt mir gerne Eure Erfahrungen.