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Kennt Ihr das Projekt „Starke Frauen“ noch nicht? Dann könnt Ihr Euch hier das Einführungsvideo (5 Minuten) ansehen oder es lesen.

(Hinweis: Wer das Videointerview mit Markus schon gesehen hat, liest bitte direkt an der Stelle weiter, wo der Text wieder schwarz wird. Die grünen Zeilen sind eine Abschrift des Video-Interviews für alle, die lieber lesen als gucken)

Hallo zusammen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer. Willkommen bei einer neuen Folge der Gespräche über Starke Frauen. Ich bin heute mit Markus Wortmann verbunden. Markus ist Künstler und Schwerttrainer, ein Wort- und Bildermann für Menschen, Gemeinschaften und Organisationen. (www.touchofart.de) Markus kombiniert Pinsel und Schwert, denn in Japan sind diese beiden Künste eng verbunden, und hier vereinen sie sich in einem Menschen, der auch Führungskräfte coacht und trainiert, ihnen zeigt, wie sie ihren Standpunkt beziehen können, zu ihrer Mitte finden. Und damit sind wir eigentlich schon bei der ersten Frage – Standpunkt beziehen, zur Mitte finden – ist das Stärke? Markus, was ist denn für Dich eine starke Frau?

Markus: Ich finde das erstmal eine tolle Frage. Frauen sind für mich stark, wenn ich das Gefühl habe, dass sie wirklich mit sich verbunden sind, dass sie nicht etwas für mich oder für die Welt tun, sondern aus sich selbst heraus. Jetzt könnte man sagen, dass das auf starke Menschen generell zutrifft. Ja, aber ich finde, Frauen tun das auf eine besondere Art und Weise und wenn ich das Gefühl habe, eine Frau ist mit sich verbunden und tut, was sie gerade tut, zuerst für sich selbst und dann für das Gegenüber oder für die Welt, dann spüre ich – boah, da ist Stärke drin. Dann kann ich dieser Frau ein paar dumme Fragen stellen und könnte vielleicht feststellen, dass sie nicht auf allen Ebenen stark ist. Wenn ich die Situation irgendwie stören würde, ich würde vielleicht sagen – hey, was willst denn du hier – dann könnte ganz schnell etwas passieren, was dazu führt, dass die Frau aus ihrem Spüren und ihrem subjektiven Empfinden herausfällt, weil sie sich als Objekt behandelt. Und jetzt bin ich bei Stärke. Stärke gibt es, glaube ich, in drei Welten, nämlich einmal die Stärke des Leibes, die Stärke des Herzens und des Geistes. Wenn jemand diese Stärken gut verbindet, dann ist diese Person in sich stark. Frauen machen das auf eine sehr spezielle Art und Weise, und wenn sie diese verschiedenen Stärken miteinander verbinden dürfen und können, dann bin ich bei einer starken Frau angekommen.

Andrea: Ich durfte vor diesem Interview ausprobieren, wie Du das machst, Menschen über die Schwertarbeit zu stärken, sie zu ihrer eigenen Mitte finden zu lassen. Kannst Du unseren Zuschauerinnen und Zuschauern bitte erklären, was wir da gemacht haben und ich werde im Anschluss meine Eindrücke schildern.

Markus: Ich habe Dir am Anfang etwas mit auf den Weg gegeben, da ging es um den Begriff der Würde und um das Subjektive in uns. Das ist für Männer wie für Frauen gleich, dennoch ist das Subjektive in Mann und Frau, glaube ich, anders gegründet. Wir haben über Subjekt und Objekt gesprochen und über die Frage, wann ich wirklich Subjekt bin und mit mir verbunden. Das ist etwas ganz Zentrales, weil wir da draußen so viel rumlaufen, uns so leicht im Außen verlieren können.

Was ich mit Dir gemacht habe, war erstmal, Dich zu Dir selbst zurückzurufen, damit du leiblich, physisch, fühlend, ganz bei Dir ankommst. Ich glaube, es ist gut für jeden Menschen, Frauen wie Männer, über den Tag immer wieder zu sagen „Ich bin ich. Und ich bin gerade mit mir verbunden.“ Das haben wir in unterschiedlichen Facetten geübt, zum Beispiel „Ich bin ich und du bist du.“ Und auf dieser Reise, das war zumindest mein Eindruck, hast Du Dich ein Stück mit Deiner weiblichen Wurzel verbinden können. Die ist mir unbekannt, weil ich ein Mann bin, aber ich habe sehen können, wie Du plötzlich mit einer anderen Haltung da gestanden hast. Und Du hattest nur einen Stock (Als Symbol für das Schwert) in der Hand, hast Dich mit Dir selbst verbunden und ich sah, dass jetzt etwas passiert, da richtet sich eine Frau auf und zeigt sich in ihrer ganzen Klarheit. Und sie ist überhaupt nicht nervös dabei, sondern in dieser Verinnerlichung entsteht genau dieses „Ich bin ich“. Diese Fähigkeit, sich mit dem Weiblichen zu verbinden, ist etwas ganz Besonderes, was viele Frauen sich nicht gönnen oder erlauben. Weil es schwierig ist. Bei uns hat das gut geklappt. Und dann haben wir eine innere und äußere Reise begonnen, bei der wir das Schwert als Medium benutzt haben, um miteinander in Kontakt zu gehen. Es war eindeutig – hier ist mein Raum, da ist dein Raum und das Schwert ist die Trennungslinie oder besser der Raum, den wir eröffnen könnten, weil er dazwischen liegt. Dann gab es einen Moment, wo wir die Säbel aufeinander gerichtet haben und uns angeguckt haben.

Du hast gesagt: „Ich bin plötzlich fokussiert, mein Blick auf dich hat sich verändert, weil ich plötzlich eher nach außen gucke aber trotzdem mit mir verbunden bin.“ Dieses Oszillierende ist schön und wertvoll: Ich innen, du außen, aber ich sehe dich und ich bin gerade ganz auf dich ausgerichtet und fokussiert. In meinem Seitenblick auf Dich habe ich dann noch wahrnehmen können, dass Dich diese Fokussierung stärkte, Du standest in einer anderen Form von Präsenz da. Und das hat mir gezeigt, wie schnell es geht, dass Menschen sich plötzlich stark fühlen. Der nächste Schritt wäre gewesen, das Schwert nach innen zu legen. Deswegen ist es die duale Schwertarbeit. Das Schwert nach außen zu tragen, heißt „ich sehe dich“. Das Schwert nach innen zu richten, hieße dann „Und was macht das mit mir?“ Aber was ich bei Dir wahrgenommen habe, war einfach Kontakt. Und darum geht’s in der Schwertarbeit. Und Kontakt ist vielleicht auch das Schlüsselwort schlechthin für Führung und wenn ich jetzt den Bogen spanne zu Führung und Frauen und weiter zu starken Frauen, dann denke ich an Frauen, die in Kontakt bleiben können. Die bleiben, nicht weggehen.  Diese Frauen erzeugen eine ganz spannende Form von Stärke, wenn sie nicht ausweichen, nicht taktieren, nicht wacklig werden.

Andrea: Im Sinne von: Ich halte das aus.

Markus: Das wäre mir schon fast zu anstrengend. Wenn ich das innere Schwert gut führen kann, dann muss ich gar nicht mehr aushalten, sondern kann einfach bleiben. Ich bleibe nur, muss auch nicht loslassen, ich kann einfach lassen, so lassen und bleiben. Das können Männer auch, sie tun es bloß auf eine andere Art und Weise, weil die Subjektivität in uns, glaube ich, irgendwo wurzelt. Und in diesem Grund, in dieser Wurzel, trennt sich etwas und führt dazu, dass Männer und Frauen unterschiedlich in der Welt stehen und agieren. Männer erhöhen sich über ihre Subjektivität, indem sie sich mit dem Außen verbinden, können dadurch besser in der Welt bleiben und wirken, weil sie hier Sicherheit finden. Frauen sind eher auf der Suche nach diesem „Ich darf bleiben. Ich darf so sein und ich darf mich sogar mit dem verbinden, was mich zutiefst ausmacht, mit meiner Vita, mit meinem Aussehen, mit meinem ganzen „So bin ich“. Das macht natürlich starke Frauen für Männer auch nochmal spannend, oder aber gefährlich, je nachdem, wohin man guckt.

Andrea: Danke. Ich spiegele noch kurz für die Zuschauerinnen und Zuschauer, wie es mir ging in unserer Schwertarbeit. Du hast ja schon einiges erklärt über den Blick, den Du währenddessen auf mich hattest. Was ich empfunden habe, war tatsächlich am Ende eine sehr große Klarheit und Fokussiertheit, die aber nicht mehr den Unterschied (zwischen innen und außen) machen musste, nicht mehr in dem Entscheidungszwang war, den ich sonst manchmal kenne – ich bin bei mir oder ich bin ich im Außen. Sondern ich war mit mir verbunden, war zwischendurch, teilweise über das Schwert, mit Dir verbunden, konnte diese beiden Verbindungen gut tragen und hatte das Gefühl, dadurch auch einen sehr großen Aktionsraum zu erfahren. Und deswegen kann ich sehr gut verstehen was Du sagst, dass diese Arbeit mit dem Schwert, die wir zwei jetzt gerade nur eine Stunde gemacht haben, etwas ist, was für Führungsfrauen extrem hilfreich ist.

Andrea: Du hast eben über Subjektivität gesprochen, kannst Du dazu noch ein paar Sätze sagen?

Markus: Ich nutze diesen Begriff, um deutlich zu zeigen, dass wir einen Kontext immer aus unserer ganz eigenen Welt heraus beurteilen. Das Wahrnehmen eines Kontextes ist immer subjektiv und „Ich“. Wenn „Ich“ mir dieser Subjektivität bewusst bin, mich also mit mir selbst verbinde und dann erst in den Kontakt mit einem oder mehreren Menschen gehe, entsteht ein Angebot für eine lebendige und neue Begegnung. Wenn ich aber als Mensch diese meine Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle und Emotionen nicht würdige und zutiefst anerkenne, falle ich aus der Subjekthaftigkeit meines „Ich“ heraus, distanziere mich immer stärker von mir selbst und auch von allen und allem anderen. Ich beginne die Welt und mich selbst als Objekt zu behandeln, ich bin getrennt von mir und von der Welt, losgelöst.

Andrea: Ich habe Dich eben so verstanden, dass wir als Männer oder Frauen auf unterschiedliche Wurzeln zurückgreifen. Hast Du das so gemeint?

Markus: Ja, wenn ich mir die Geschichte der Menschheit angucke, dann gibt es darin kulturelle und soziologische Wurzeln. Männer und Frauen sind in ihren Rollen, in ihrem Verhalten und in ihrem Verständnis unterschiedlich gefordert gewesen, und das hat geprägt. Dazu kommt noch, dass diese Prägung auch schon aus einer anderen DNA, einem anderen Stoffwechsel, einem anderen physischen Dasein erfolgt, so dass das Empfinden von „was muss ich tun, damit ich meinen Wurzeln gerecht und gewahr bleibe“, insgesamt einen deutlichen Unterschied macht.

Mir sagen viele Männer, dass sie sich in ihren Rollenverständnissen und auch in ihrer Physis anders wahrnehmen und zum Beispiel die Frage, wie und wo sie Sexualität erleben, ganz anders beantworten als Frauen. Die meisten Männer kennen ihren Schoßraum kaum. Für viele Frauen, glaube ich, war dieses Wissen einmal da, ist aber verloren gegangen. Oder – guck Dir Bewegungsmuster an, im Sportunterricht lachen die Jungs über die Mädels, wenn sie Bälle schmeißen, sind aber selbst stocksteif, wenn es mal um Körperlichkeit in der Bewegung geht. Wenn ich mit Frauen mit dem Schwert arbeite, bin ich schnell weg von der reinen Ästhetik des Kämpfens. Frauen fragen oft, ob sie die Bewegung nicht runder machen können, ein bisschen mehr tanzen. Für Männer muss der Ablauf klar sein, so geht das und dann so, fertig. Das heißt aber nicht, dass es nicht für Frauen mal spannend sein könnte, in so eine männliche Physiologie hineinzugehen, und für viele Männer wäre es vielleicht ganz gut, mal mit dem Säbel zu tanzen.

Um auf die starke Frau zurückzukommen, für sie wäre es interessant, sich dieser weiblichen Wurzeln wieder gewahr zu werden, in ihrer ganz persönlichen Form, ohne Stereotyp. Es geht genau um dieses Individualisierte, was tief in jeder Vita steckt, mit all dem, was ich bin und wie ich geworden bin. Wenn das gelingt, dann würde ich immer von einer schönen Frau sprechen. Schön nicht im Sinne von hübsch, sondern im Sinne von stark, von gelassen, von klar. Treya Koch beschreibt in ihrer Arbeit gerne, dass eine Frau ein großes Meer unter sich spürt, in dem alles mit allem verbunden ist. Darauf greift sie zu und deswegen muss sie erstmal sortieren, was aus dieser Weite an die Oberfläche kommt, sie braucht eine Ordnung, sonst kommt sie durcheinander im Meer der Wahrnehmung, im Meer der Gefühle. Also: Gebt einer Frau etwas mehr Zeit, um alles wahrnehmen zu dürfen, was sie wahrnimmt! Und wenn Frauen sich diese Wahrnehmung selber gönnen, dann würde die Klarheit entstehen, die wir bräuchten, um uns über der Meeres-Oberfläche austauschen zu können, ohne das von dem daraus Aufsteigenden allzu viel verloren geht.

Männer sind auch verankert, aber meiner Meinung nach eher über dem Horizont. Sie haben viele Schubläden in den Himmel gemacht, schon seit Jahrtausenden. Es gibt Milliarden von Schubkisten dort oben, und immer, wenn jemand fragt „Was fühlst du gerade?“, dann macht der Mann eine Schublade auf, guckt rein und weiß – aha, so könnte ich also fühlen. Er hat aber gar nicht hingefühlt, sondern einfach nur abgerufen. Ich glaube sogar, dass viele Frauen für Männer der emotionale Körper sind. Deswegen sind Frauen so unglaublich spannend für Männer, weil sie viele Emotionen und viele Gefühle haben. Gleichzeitig wollen wir das gar nicht, es ist ja so anstrengend.

Andrea: Aha, weil der Mann sich bei der Frau abschaut, wie er fühlen könnte?

Markus: Nein, nicht abschaut, sondern als Ersatz, weil er’s vielleicht gar nicht so abrufen kann. Wenn wir Männer uns erlauben würden, viel mehr bei uns ankommen zu dürfen, in der Form, wie wir uns empfinden und wie wir in Ordnung sind – genauso, wie die Frauen in Ordnung sind – dann würde vielleicht auf der Trefferebene, wo wir uns austauschen würden, wo also Männer und Frauen gemeinsam an etwas arbeiten oder für etwas stehen, dann würde an der Stelle dieser intime Raum der Subjektivität entstehen, wie wir ihn eben bei der Schwertarbeit erlebt haben. Dazu brauche ich aber Zeit, Offenheit und: ich muss es wirklich wollen.

Andrea: Und dieses Wollen ist genau der Unterschied aus der Schwertarbeit – entweder ich richte mich komplett auf etwas aus oder ich weiche aus, ducke mich pfeifend weg, im Sinne von „Och nö, lass mal“.

Markus: Genau das. Und die Entscheidung funktioniert in Bruchteilen von Sekunden. Das geht so schnell und daher tut Entschleunigung immer gut. Ich würde behaupten, jede Methode der mentalen, physischen oder seelischen Ausrichtung geht erstmal über Entschleunigung, über den Atem, es geht immer um diese zeitliche Achse, erstmal bei mir zu sein, um dann bei dir sein zu dürfen. Wenn ich da in Unordnung bin, wenn ich nicht erst „Ich bin ich“ sprechen kann, weil du sofort reinplatzt, dann verliere ich mich irgendwie in dir. Innerlich müsste ich dann sagen – Stopp. Erst ich, dann du – und das ist nicht egoistisch, sondern es ist einfach nur in Ordnung, denn es bringt Ordnung. Du hast vorhin von Klarheit gesprochen. Das Schöne ist ja, wenn diese Klarheit wieder besteht, auf beiden Seiten, dann ist die Voraussetzung für wirkliche Begegnung geschaffen.

Andrea: Du hast gerade das Bild von Treya benutzt, das Meer, aus dem Frauen ihre Wurzelkraft ziehen. Ich stelle mir vor, dass da eine ganze Menge hochkommt und denke in dem Zusammenhang an ein Zitat einer anderen Interviewpartnerin,  Johanna Tiefenbeck, die gesagt hat, dass wir Frauen das Schwert benötigen, weil es das Wesentliche vom Unwesentlichen trennt. Nicht das Schwert für den Kampf, sondern das Schwert für den Fokus. Wir Frauen können das Schwert gut gebrauchen, oder?

Markus: Auf jeden Fall. Es ist Entschiedenheit, Klarheit und auch Sortiermechanismus. Gleichzeitig ist das Schwert auch ein Weg zwischen uns, zwischen Himmel und Meer. Ich habe als Mann meinen weiten Himmel, am liebsten ohne Schubladen, Du hast als Frau das endlose Meer. Jeder klärt die Dinge für sich in der Tiefe, in der Weite und auf der horizontalen Ebene, da können wir uns treffen.

Schade ist, dass unser Bildungssystem so ein Lernen auf geistig, leiblicher, physischer und seelischer Ebene nicht vorhält, das ist ja alles sehr schofelig. Was wir fördern, ist mentale Kraft, Intellekt und Ordnung im Sinne der männlichen Hierarchien. Klar, die Jungs machen mal Yoga in der Schule, ein bisschen Tanzen, halt so ein kleines, nettes Mädelsprogramm, aber diese Erfahrungen werden nicht selbstverständlich. Frau ist nicht selbstverständlich in dieser Welt, davon bin ich felsenfest überzeugt. Und der Paradigmenwechsel, vor dem wir stehen, wäre eine große Chance, das zu verändern. Wenn wir uns auf die Verbundenheit mit allem besinnen könnten, wenn Frauen wirklich teilen dürften, ohne dass sie etwas von sich geben müssten, dann müssten sie nicht mehr in den Kampf ziehen. Teilen ist ein Grundakt von Weiblichkeit. Für Männer ist Teilen etwas ganz Schwieriges, sie wollen sofort den Rückfluss erfahren – was habe ich davon? Für Frauen ist das, glaube ich, keine Grundbedingung des Teilens. Sie haben die Bedingung bloß adaptiert, weil sie sonst das Gefühl haben, und das stimmt ja auch, dass sie immer zu kurz kommen. Weil diese männlich geprägten, patriarchalen Strukturen, Frauen auf die Seite des „Ich muss etwas bekommen, damit ich es teilen kann“ zwingen.

Andrea: Würden Frauen, wenn sie aus ihrer natürlichen Stärke heraus handeln, automatisch aus der Fülle agieren können? Denn das, was Du gerade mit dem kulturprägenden, männlichen Verhalten in Bezug auf das Teilen beschrieben hast, ist ja ein Verhalten, das eher dem Mangel entspringt?

Markus: Auf jeden Fall, ja. Ich glaube, dass das, was Männer tun, immer aus dem Mangel geschieht. Soziale Marktwirtschaft verwaltet den Mangel. Wir greifen auf ganz archaische Strukturen zurück, denn wenn es vor Urzeiten ums Überleben ging, dann herrschte natürlich Mangel. Jetzt haben wir uns aber eine Welt geschaffen, in der eigentlich kein Mangel bestehen müsste, aber wir können die Haltung nicht ablegen, das Gefühl des Mangels, dieses „Ich komme zu kurz“. Wenn Frauen sich ihren natürlichen Bezug zur Fülle wieder aneignen dürften, und da ist ganz klar eine Erlaubnisfrage drin, dann erst wäre Veränderung möglich.

Andrea: Erlaubnisfrage, weil…

Markus: Erlaubnisfrage, weil ich es immer wieder erstaunlich finde, mit welchem unglaublich energetischen Aufwand Führungsfrauen agieren müssen. Weil sie einer Welt begegnen, die sie entweder adaptieren, dann sind sie härter als die Männer. Oder sie rennen immer nur gegen Türen und irgendwann kommt eine Aushöhlung, eine Erschöpfung. Viele Frauen verlassen dann die Unternehmen – „Hier kann ich´s nicht, das geht einfach nicht“ und gehen in die Selbstständigkeit. Das ist schade, denn eigentlich sind die Frauen an genau der richtigen Stelle, können sich nur einfach nicht entfalten, nicht einbringen, kriegen nicht den Raum, den sie benötigen.

Andrea: Du sprachst gerade davon, dass Du ein Fan von Ordnung bist.

Markus: Ja, ich mag es, wenn die Dinge in Ordnung sind, dann habe ich etwas sauber getrennt. Mit einem Kollegen zusammen habe ich mal einen Versuch gestartet, eine ganz einfache Dreiteilung zu machen. Sie ist vielleicht psychologisch oder soziologisch nicht ganz korrekt, trotzdem ist sie extrem dienlich, weil sie die Dinge auf der Oberfläche sortiert, durch das Bewusstwerden des Dreiklangs aus Wahrnehmung – Gefühl – Emotion. Die Wahrnehmung als Allererstes ist völlig neutral, unsere Sinne nehmen (nach außen oder nach innen) etwas auf. Stehe ich unter der Dusche und das Wasser wird kalt, dann ist erst die Wahrnehmung da und dann folgt ein Gefühl – brrrr – Sch…, kalt. Das heißt, eine Wahrnehmung trifft in uns auf etwas und versucht zu sortieren – will ich oder will ich nicht, lecker oder bäh – und so weiter. Das lernen wir schon sehr früh, diese Gefühle leiten uns sozusagen in unser Leben hinein. Papa guckt genervt, also halte ich lieber die Klappe. Gefühle öffnen uns, oft schon in der Kindheit, zu einem möglichen Verhalten und diese Kombination speichern wir ab, sie wird zur Emotion. Das heißt, ein Gefühl ist ab dann mit einer Emotion hinterlegt, und aus der Emotion erfolgt immer eine Handlung, dergestalt, dass ich etwas von mir zeige. Ganz oft unbewusst und auch nicht steuerbar, ich werde rot vor Scham oder wütend.

Mir geht es dabei um die Erfassung der Verbindung, die immer besteht – wir nehmen wahr, wir fühlen und gehen in eine Emotion. Nutzen wir diese grobe und wie gesagt wissenschaftlich vielleicht nicht ganz korrekte Dreiteilung als Landkarte, dann finde ich sie für Frauen sehr spannend. Stell Dir vor, wir stehen uns mit dem Schwert gegenüber und ich würde plötzlich auf Dich zu rennen, Dich anschreien, dann würde bei Dir etwas passieren, Deine Gefühlswelt würde aufgehen und Du müsstest mir irgendetwas zeigen. Jetzt kommt’s: Ich glaube nämlich, dass bei vielen Frauen das Feld zwischen Gefühl und Emotionen nicht mehr verbunden ist, sie können nicht mehr unmittelbar zeigen, wie es ihnen geht. Sie fühlen also das eine, zeigen vielleicht aber etwas anderes. Wenn wir uns den Dreiklang Wahrnehmung-Gefühl-Emotion bewusst machen, könnte aus dieser Selbstreflexion ein wichtiger neuer Schritt – ein Vierklang sozusagen – entstehen, nämlich das Selbstgewahrsein dieser drei Schritte und die bewusste Entscheidung, welches Verhalten ich dir zeige. Ich kann also durchaus wütend sein, du musst aber nicht für meine Wut herhalten. Ich könnte dir stattdessen meine Wut zeigen, aber mein Verhalten bliebe währenddessen in der Subjektivität meiner selbst und deiner selbst. Und darin liegt die große Chance für Frauen, wenn sie nicht mehr einfach irgendwie emotional sind …

Andrea: … sondern – um Viktor Frankl zu zitieren – den Raum zwischen Reiz und Reaktion vergrößern und damit sauber trennen zwischen einem Gegenüber, der irgendetwas tut und einer Emotion, die durch dieses Tun ganz alleine in uns entsteht.

Markus: Genau, aber dazu müssten sie sich erst gewahr werden: Ich bin ich, ich habe eine Wahrnehmung und ein Gefühl und das löst Folgendes in mir aus. Und jetzt käme das Verhalten, das wäre das, was du mir zur Verfügung stellst im Sinne eines „Ich mit dir“ und darin liegt auch eine Chance auf Wachstum, denn wenn ich mich dir auf eine bestimmte emotionale Art zeige, kann ich an dir lernen, wie sich das anfühlt. Wie Martin Buber es sagt – der Mensch wird am Du zum Ich.

Andrea: Ich finde das ganz großartig, ich darf meinen Wahrnehmungsraum am anderen ausprobieren und dadurch lernen und wachsen.

Markus: Es wäre die größte Lernchance und ein wichtiger Beitrag zum notwendigen Paradigmenwechsel, wenn Frauen sich erlauben würden, eine bewusste Emotionalität zu haben und diese der Welt zur Verfügung zu stellen, ohne aber immer das Gefühl zu haben: ich gebe etwas und ich kriege nichts zurück.

Andrea: Was benötigen wir, damit dieser Paradigmenwechsel passieren kann?

Markus: Ich glaube, es passiert schon viel. Ich bemerke, dass viele junge Männer sich plötzlich in ihrer Subjektivität ernst nehmen und existenzielle Fragen stellen – wer bin ich als Mann, wer bin ich als Mann für dich, wer bin ich als Vater? Derartige Fragen, die für viele Frauen so selbstverständlich sind, haben sich Männer lange Zeit überhaupt nicht gestellt, glaub´s mir. Aber wir alle begreifen gerade die Verletzlichkeit der Welt und sehen, dass die Mentalität des „ich schnapp mir einfach, was ich brauche“ nicht mehr funktioniert, und das kriegen auch viele Männer mittlerweile mit. Und wenn meine alten Selbstverständlichkeiten nicht mehr funktionieren, dann kann ich mich ja mal fragen, wer ich in einem neuen Selbstverständnis sein könnte.

Andrea: Das finde ich jetzt gerade ganz spannend! Du hast den Paradigmenwechsel erwähnt und gesagt, dass es eine große Chance sei, wenn Frauen in ihre Stärke kämen. Und dann habe ich Dich gefragt, was wir dafür benötigen und Du hast begonnen, über Männer zu sprechen. Ist es also so, wie zum Beispiel auch Veit Lindau es in seinem Buch Genesis schreibt? Ich zitiere jetzt mal sinngemäß – damit Frauen in die Stärke kommen, benötigen sie die Einladung der Männer, die aus einem neuen Selbstverständnis heraus sagen: Wir gehen einen Schritt zurück und wir laden euch ein, in eure Stärke zu kommen.

Markus: Ich glaube, das ist zutiefst richtig. Es ist ziemlich schräg, aber zutiefst richtig. Wenn Männer den Frauen Platz machen, sich von ihnen führen lassen, vielleicht auch zu mehr Langsamkeit einladen lassen, wenn sie die Angst vor Kontrollverlust verlieren und stattdessen beginnen, tiefer nachzuspüren, dann könnten sie in die Verbindung gehen, aus der etwas Neues entstehen kann. Die isolierte und objektivierte Sichtweise des Ich kann nicht mehr funktionieren, wir sollten uns als Männer und Frauen, als Menschen, wieder vollständig verbinden. Man sieht das ja auch in Ritualen jedweder Art, die nur vollständig sind, wenn sie von Männern wie Frauen gleichzeitig begangen werden und bei denen sowohl Mann als auch Frau sprechen muss, damit der Kreis sich schließt.

Andrea: Wow, das ist ein eindringliches Schlusswort. Die Stärke der Frauen darf durch die Einladung der Männer wirken, damit der Kreis sich schließt, damit es rund wird, damit wir vollständig sind. Ich danke Dir für diesen schönen Gedanken und für unser Gespräch, lieber Markus.

Kontakt:

Markus Wortmann
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Email: wortmann@touchofart.de